Danse Macabre
Bänder anhört, kann
den »So-tun-als-ob«-Ballsaal ebenso wenig akzeptieren, wie
ich Lewtons Pappmachemauer akzeptieren kann; wir hören
einfach einen Discjockey aus den vierziger Jahren, der im
Studio Schallplatten spielt. Aber für das Publikum früherer
Zeiten war der »So-tun-als-ob«-Ballsaal realer als das »Sotun-als-ob«; man konnte sich die Männer in ihren Fräcken
vorstellen, die Frauen in Abendkleidern und langen Seidenhandschuhen bis zum Ellbogen, die leuchtenden Wandscheinwerfer undTommy Dorsey im weißen Dinnerjackett, der dirigierte. Oder im Falle des unrühmlichen Orson-Welles-Hörspiels The War of the Worlds, einer Halloween-Präsentation
des MercuryTheater (und das war ein Streich, den Millionen
Amerikaner niemals vergaßen), konnte man die Phantasie so
weit dehnen, daß die Menschen schreiend auf die Straßen lie
* Möchten Sie noch mehr Beweise, wie sich die Kulisse der Realität verwandelt, ob wir es wollen oder nicht? Erinnern Sie sich an Bonanza, das von NBC ungefähr tausend Jahre lang gesendet wurde? Sehen Sie
sich heute einmal eine Folge im Kabelfernsehen an. Betrachten Sie die
Kulisse der Ponderosa - den Hof vorne, das große Wohnzimmer - und
fragen Sie sich, wie Sie jemals glauben konnten, daß das »real« war. Es
schien real, weil wir bis etwa 1965 daran gewöhnt waren, daß Fernsehserien im Studio gedreht wurden; heutzutage verwenden nicht einmal
mehr die Produzenten von Fernsehserien Studiokulissen statt Außenaufnahmen. Der Stand der Technik hat sich, ob gut oder schlecht, weiterentwickelt.
fen. Im Fernsehen hätte das nicht funktioniert, aber im Radio
hatten die Marsianer keine Reißverschlüsse im Rücken.
Radio vermied die »Tür aufmachen/Tür zulassen«-Frage,
glaube ich, weil das Radio auf die Bank der Phantasie einzahlte und keine Rückzieher im Namen des »Standes der
Technik« machte. Radio ließ alles real erscheinen.
2
Meine erste Erfahrung mit echtem Horror kam aus den Händen von Ray Bradbury - es war eine Adaption seiner Story
»Mars Is Heaven!« (dt: »Die dritte Expedition«) in Dimension X. Sie muß um 1951 gesendet worden sein, ich wäre dann
damals vier gewesen. Ich bat darum, mir die Sendung anhören zu dürfen, und meine Mutter erlaubte es mir nicht.
»Kommt zu spät«, sagte sie, »und es wäre viel zu aufregend
für einen Jungen in deinem Alter.«
Ein andermal erzählte Mom mir, daß eine ihrer Schwestern
sich beinahe in der Badewanne die Pulsadern aufgeschlitzt
hätte, als im Radio OrsonWelles’ War ofthe Worlds übertragen wurde. Meine Tante war kein zur Eile neigenderTyp, sie
hatte, sagte sie später, überhaupt nicht vorgehabt, die
Schnitte zu machen, bis sie die marsianischen Todesmaschinen am Horizont aufragen sah. Ich denke, man könnte sagen,
dasWelles-Hörspiel war zu aufregend für meine Tante gewesen …, und die Worte meiner Mutter hallen über die Jahre
hinweg zu mir wie die Stimme in einem ungemütlichen
Traum, der niemals richtig aufgehört hat: »Zu aufregend …,
aufregend …, aufregend …«
Ich schlich mich zur Tür und hörte trotzdem mit, und sie
hatte recht: Es war verdammt aufregend.
Weltraumfahrer landen auf dem Mars - aber es ist überhaupt nicht der Mars. Es ist das gute alte Greenhorn, Illinois,
und es wird von allen toten Freunden und Verwandten der
guten Weltraumfahrer bewohnt. Ihre Mütter sind da, ihre
Liebsten, der gute alte Streifenpolizist Clancy, Miß Henrys
aus der zweiten Klasse. Auf dem Mars hämmert Lou Gehring
sie immer noch für die Yankees über den Zaun.
Die Weltraumfahrer kommen zu dem Ergebnis, daß der
Mars der Himmel ist. Die Einwohner nehmen die Besatzung
des Raumschiffs mit in ihre Häuser, wo sie vollgestopft mit
Hamburgern und Hot Dogs und Moms Apfelkuchen den
Schlaf der Friedlichen schläft. Nur ein Mannschaftsmitglied
vermutet die unaussprechliche Obszönität, und er hat recht.
Mann, und wie er recht hat! Doch auch er erkennt die tödliche Illusion zu spät …, denn in der Nacht fangen die heißgeliebten Gesichter an zu tropfen, zu schmelzen und sich zu verändern. Freundliche, weise Augen werden zu schwarzen Teergruben mörderischen Hasses. Die rosigen Apfelbäckchen
von Großmama und Großpapa werden länglich und gelb.
Nasen dehnen sich zu runzligen Haken. Münder werden zu
klaffenden Mäulern. Es ist eine Nacht schleichenden Grauens, eine Nacht vergeblicher Schreie und verspäteten Schrekkens, denn der Mars ist doch nicht der Himmel. Der Mars ist
eine Hölle von Haß und Täuschung und Mord.
In
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