Danse Macabre
seinem Käfig, und er hat vielleicht
etwas von der alten »Anstaltsmentalität« entwickelt. Manchmal muß er mit einem Stock herausgelockt werden. Und
manchmal kommt er überhaupt nicht heraus.
Unter diesen Aspekten betrachtet, wird die Kulisse der
Realität etwas, das man nur sehr schwer manipulieren kann.
Natürlich wurde es in den Filmen getan; wäre das nicht so,
dann wäre dieses Buch etwa um ein Drittel oder mehr kürzer.
Doch das Radio entwickelte ein beachtliches Werkzeug (vielleicht sogar ein gefährliches; die Panik und die nationale Hysterie, die der Ausstrahlung von The War ofthe Worlds folgten, deuten darauf hin, daß es so sein könnte), das Schloß am
Käfig des Gorillas aufzumachen, indem es den visuellen Teil
der Kulisse der Realität umging.* Doch bei aller Nostalgie,
* Oder was ist mit Hitler? Die meisten von uns assoziieren ihn heute mit
Filmausschnitten in Dokumentarsendungen, vergessen aber, daß Hitler das Radio in den dreißiger Jahren, ohne Fernsehen, mit einer bösen
Brillanz benützte. Ich würde vermuten, daß zwei oder drei Auftritte in Meet the Press oder sechzig Minuten mit MikeWallace alsTalk-Master
Hitler sehr wirkungsvoll den Garaus gemacht hätten.
die wir empfinden mögen, ist es unmöglich, wieder zurückzugehen und die kreative Essenz des Schreckens im Radio wieder zu erleben; dieses spezielle Schloß wurde von der Tatsache aufgebrochen, daß wir, ob gut oder schlecht, nun eine
glaubwürdige visuelle Eingabe als Teil der Kulisse der Wirklichkeit verlangen. Ob uns das paßt oder nicht, wir müssen
damit leben.
3
Jetzt sind wir mit unserer kurzen Unterhaltung über das
Radio bald fertig - ich finde, noch mehr zu sagen hieße,
draufloszufaseln wie einer jener ermüdenden Filmfans, die
einem die ganze Nacht erzählen wollen, daß Charlie Chaplin
der beste Leinwandschauspieler war oder daß die SpaghettiWestern mit Clint Eastwood auf dem Höhepunkt der existentialistischen/absurden Bewegung stehen - aber keine Abhandlung über das Phänomen des Schreckens im Radio, wie
kurz auch immer, wäre vollständig, ohne den besten auteur des Genres zu erwähnen - nicht Orson Welles, sondern Arch
Oboler, den ersten Stückeschreiber, der seine eigene nationale Rundfunkserie hatte, das gruslige Lights Out.
Lights Out wurde eigentlich in den vierziger Jahren ausgestrahlt, aber in den fünfziger (und sogar in den sechziger) Jahren wurden so viele Folgen wiederholt, daß ich es rechtfertigen kann, sie hier aufzunehmen.
Eine, an die ich mich aus der Wiederholung in Dimension
X noch genau erinnere, war »The Chicken Heart that Ate the
World«. Oboler war sich, wie so viele Leute im Horror-Genre
-Alfred Hitchcock ist ein weiteres hervorragendes Beispiel-,
über den Humor deutlich im klaren, der in vielen HorrorStoffen implizit vorhanden ist, und dieses Wissen drückte er
nie besser aus als in der Chicken-Heart-Episode, die so absurd war, daß man kichern mußte, während sich Gänsehaut
auf den Armen bildete.
»Erinnern Sie sich, erst vor wenigen Tagen baten Sie mich
um meine Meinung, wie das Ende der Welt aussehen würde?«
sagt der junge Wissenschaftler, der dummerweise das Grauen
auf eine ahnungslose Welt losgelassen hat, feierlich zu seinem
jungen Proteg6, während sie in einer Höhe von fünfzehnhundert Metern über dem ständig wachsenden Hühnerherz dahinfliegen. »Erinnerst du dich an meine Antwort? Oh, welch
gelehrte Prophezeiung! Hochtrabende Theorien darüber,
daß die Erdrotation zum Stillstand kommen wird … Entropie …, und jetzt ist es rauhe Wirklichkeit, Louis! Das Ende
der Menschheit ist gekommen! Nicht im Rot der Kernverschmelzung …, nicht in der Pracht eines interstellaren Feuers …, nicht mit dem Frieden weißen, kalten Schweigens …,
sondern damit! Mit diesem kriechenden, pulsierenden
Fleisch unter uns! Das ist ein Witz, was, Louis? Der Witz des
Kosmos! Das Ende der Menschheit … wegen eines Hühnerherzens.«
»Nein«, stammelt Louis. »Ich kann nicht sterben. Ich
werde einen sicheren Landeplatz finden …«
Doch in diesem Augenblick wird aus dem konstanten
Brummen der Flugzeugmotoren im Hintergrund wie auf ein
Stichwort hin ein hustendes Stottern. »Wir trudeln!« kreischt
Louis.
»Das Ende der Menschheit«, verkündet der Doktor mit
Grabesstimme, und die beiden fallen direkt in das Hühnerherz. Wir hören seinen steten Schlag …, lauter …, lauter …,
und dann das ekelerregende Platschen, das das Ende der Episode bedeutet. Ein Teil von Obolers wahrem Genie lag
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