dark canopy
in das andere Zimmer ging.
Ich warf das Messer auf das hölzerne Ziel, verfehlte aber, und wieder brach dabei ein Stück Klinge ab. Mit der nutzlos gewordenen Hand schlug ich erst gegen meinen Oberschenkel und dann auf den Tisch, bis der Schmerz biss, statt beständig zu stören. Das einstige Messermädchen traf nicht einmal mehr das verdammte Holz!
• • •
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis mein Körper sich erholt hatte und mir nicht nach ein paar Kniebeugen und Liegestützen schon schwarz vor Augen wurde.
Als Neél endlich wieder mit mir hinausging, hing der Sommer wie ein schweres, warmes Stück Wolle über der Stadt. Zwischen den Häusern staute sich Luft, die mich an das Dachgeschoss unseres früheren Stadthauses erinnerte: Da der Keller ständig von den Percents nach Gebrautem und Gebranntem durchsucht wurde (meine Großmutter soll eine exzellente Brauerin gewesen sein), lagerte mein Vater unsere Kohlen auf dem Speicher. Wenn dieser sich im Sommer richtig aufheizte, roch das ganze Haus nach Kohlenstaub und Asche, genau so wie jetzt die Stadt.
Die Falter wurden weniger. Sie starben, wenn es ein paar Tage nicht regnete, vermutlich aufgrund des Staubs von Dark Canopy, der ihre Flügel verklebte. Percents und Menschen spuckten dieser Tage ständig auf den Boden, weil man das Gesteinspulver mit jedem Atemzug in den Mund bekam. Durch die Nase atmete in der Stadt niemand mehr.
Wir gingen Richtung Villa. Ich war aufgeregt, denn heute wollte ich den anderen meine Papiere geben. Wie sie wohl reagieren würden? Meine Gedanken nahmen mich so sehr gefangen, dass ich erst aufsah, als Neél mich anstieß.
»Ich rede mit dir, hast du das nicht gemerkt?«
Ich spürte meine Wangen rot werden. »Ich war in Gedanken.«
»Geht es dir gut?« Die Ehrlichkeit, mit der er fragte, rührte mich. Da klang doch wahrhaftig etwas Sorge in seiner Stimme durch. Es hatte sich tatsächlich etwas geändert zwischen uns.
»Joy? Was ist los mit dir?«
Ich wurde mir bewusst, dass ich dümmlich grinste, und wischte mir das Lächeln mit etwas Schweiß und Staub aus dem Gesicht. »Entschuldige. Ich habe einfach nur an früher gedacht.«
»Ach.« Schweigend gingen wir ein paar Schritte weiter. Dann fragte er: »Wo hast du eigentlich gelebt, bevor du zu den Rebellen gegangen bist?«
»Ich kann dir nicht mehr sagen, wo genau. Ich war noch klein, als wir geflohen sind, gerade sechs Jahre alt.«
»Wie habt ihr es geschafft?«
»Wir sind in den Kanal gesprungen. Meine Schwester war mit Seilen an meine Mutter gebunden und ich an meinen Vater.«
Neél hakte die Daumen in seinen Hosenbund. »Es heißt, diese Art ›zu reisen‹ sei sehr gefährlich.«
»Die Stromschnellen sind kein Spaß«, gab ich zu und versuchte, mich besser zu erinnern. »Ein paarmal wurden wir gegen Felsen geworfen, einmal knallte ich mit dem Gesicht irgendwo an und der Unrat, der im Kanal schwimmt, ist auch nicht zu unterschätzen.«
Er berührte seine Unterlippe an der Stelle, wo ich von der Narbe gezeichnet war. »Ist das damals passiert?«
»Ja. Aber so entkamen wir aus der Stadt und schlossen uns den Rebellen an, die uns irgendwo aus dem Wasser zerrten.« Ich erinnerte mich, wie groß und erhaben Mars damals auf mich gewirkt hatte. Er hatte mir das Blut vom Kinn gewischt, ich sah es vor mir, als wäre es erst gestern gewesen. Meine Mutter hatte vom ersten Augenblick an großen Respekt vor Mars gehabt, aber mein Vater, der Mann, der bis zu dem Zeitpunkt mein Held gewesen war, fürchtete sich vor ihm. Dadurch wurde Mars zu meinem neuen Helden.
»Leben deine Eltern noch dort?«, fragte Neél.
Ich seufzte. »Meine Mutter starb wenige Jahre später. Kennst du die Krankheit, bei der nach und nach die Organe versagen? Erst der Darm, bis der ganze Bauch vergiftet ist; dann die Lungen, sodass man nicht mehr richtig atmen kann; hinterher das Herz, das Gehirn ...«
»Ich habe davon gehört.«
Wir gingen an einer Gruppe Percents vorbei, die uns auf unangenehm genaue Weise musterten. Neél sprach leiser, damit sie uns nicht hörten.
»Bei uns nennt man diese Krankheit Bombe. Weil sie im Krieg, als es noch Flugzeuge gab, mittels Gasbomben über manchen Städten abgeworfen wurde und weil sie sich auch verhält wie eine Bombe. Ein paar wenige Leute sterben sofort, aber dann passiert jahrelang nichts. Und irgendwann geht die Krankheit hoch. Deine Mutter stammte aus dem Süden des Landes, habe ich recht?«
Ich zuckte unsicher mit den Schultern. Ich hatte nie gefragt,
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