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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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draußen vor sich geht«, murmelte Neél. Sein Atem beschlug die Scheibe. Ich war mir nicht sicher, ob er mit mir redete oder mit sich selbst, denn in seiner Stimme klang Stolz mit, den ich nicht hören wollte.
    »Sie schlagen Lärm, um den Leuten Angst zu machen. Ich weiß nicht, was daran unglaublich sein soll.«
    »Darum geht es während der Parade nicht. Sie ist eine Erinnerung.«
    »An die feindliche Übernahme.«
    »An die Befreiung. An das Ende des Krieges.«
    Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Der Krieg hatte nie geendet. Denn dann wäre Frieden.
    »Früher«, fuhr er fort, »da waren wir nichts weiter als Sklaven. Die Percents wurden zu härtester Arbeit gezwungen und in die Kriege, die die Menschen untereinander führten. Und wenn ein Mensch krank wurde und eine neue Leber, eine Niere oder frisches Blut brauchte, dann schlitzten sie unsereins auf, rissen heraus, was sie brauchten, und warfen den Rest auf den Müll.«
    »Das sind Geschichten.«
    »Geschichten von früher, ja.«
    »Es könnten auch Märchen sein - Lügen, die sie euch erzählen, damit ihr uns hasst.«
    Er drehte sich zu mir um. »Glaubst du nicht, dass es so war? Wenn du dir die Menschen ansiehst, die du kennst, kannst du dir dann nicht vorstellen, dass es sich wirklich so ereignet haben könnte?« Er sah mich an, als wäre ihm meine Antwort wichtig. Aber ich konnte nur schweigen. Ich hatte keine Antwort für ihn. Das Einzige, was ich hätte sagen können, war: Ihr seid auch nicht besser; aber das wusste er selbst und hatte es nie bestritten.
    Er lächelte, mein Schweigen hatte zu viel gesagt. »Unsere ›Geschichten‹, wie du sie nennst, erzählen noch mehr. Es heißt, dass unsere Befreiung nie gelungen wäre, wenn die Menschen sich nicht selbst gegenseitig bekriegt hätten. Nur weil die Menschen all ihre Macht auf ihre Feinde in anderen Ländern konzentrierten, konnten wir - über die ganze Welt verteilt - einen Sieg erringen. Klingt das auch nach einer Lüge?«
    »Es klingt nach einem Märchen«, antwortete ich.
    • • •
    Ich begann, mit dem Messer zu trainieren, das Neél mir gegeben halle. Es war solide gearbeitet, nicht überragend gut ausbalanciert, aber sauber geschärft und geschliffen. Allerdings ist eine Waffe selten besser als die Hand, die sie führt. Und meine Hand war zwar auf ihren normalen Umfang zurückgegangen, allerdings noch steif, als wären sämtliche Gelenke gestaucht. Mina hatte gesagt, das würde sich mit etwas Zeit sicher geben. Neél hatte etwas sehr Passendes erwidert: »Wir haben keine Zeit.«
    Das klang lächerlich, schließlich war es erst Sommeranfang und das Chivvy fand im Herbst statt. Aber es galt, in den wenigen Monaten einen Soldaten aus mir zu machen, der nicht nur allen anderen Menschen davonlief, sondern auch einer Horde Percents. Es sah aussichtslos aus, aber ich hegte dennoch die stille Hoffnung, es trotzdem zu schaffen; schließlich behauptete Neél, nichts wäre aussichtslos.
    Die Tage ohne Training hatten uns massiv zurückgeworfen, also tat ich alles, wozu ich in meiner Verfassung in der Lage war: Ich zeichnete mit dem Finger unsichtbare Linien, die mir beim Orientieren im Wald helfen würden. Im Kopf fertigte ich Listen der Varlets an, die gegen mich antreten würden, und versuchte, mir ihre Stärken und Schwachpunkte einzuprägen. Es machte mir nicht unbedingt Mut, dass die Listen mit den Stärken sehr lang waren und bei den Schwächen allenfalls eine belanglose Kleinigkeit stand. Mit schmerzenden Gliedern in der Kammer zu hocken, während sie weiter an sich arbeiteten, frustrierte mich.
    So kam ich auf die Idee, mit dem Messer zu üben. Da die rechte Hand immer noch wehtat, versuchte ich es zunächst mit links. Ich dachte daran, wie Matthial das Messer warf. Er war mit beiden Händen geschickt. Während er den Bogen oder die Armbrust anlegte wie ein Rechtshänder, warf er das Messer immer mit links. »Er schält auch Kartoffeln mit links«, hatte ich Neél vor ein paar Tagen erzählt.
    Seit unserem verhängnisvollen Gespräch war unser Verhältnis wieder distanzierter geworden, freundlich, aber mit mehr emotionalem Abstand. Das funktionierte ganz gut und ich wusste inzwischen auch, wie und wo er Graves kennengelernt hatte und dass Graves eine Art Sonderstatus innehatte und deshalb nicht zu den Kriegern zählte.
    Die Erinnerung an Matthial und seine Messerwürfe halfen mir leider nicht weiter. Sein Stil war immer eher barbarisch gewesen -Treffer waren pures Glück -, außerdem tat

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