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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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hatten, zeugten die verfallenden Mauern und die eingeschlagenen Fenster, von denen nur noch Zacken übrig waren, die wie Stalaktiten in den Rahmen hingen.
    »Was ich dir zeigen wollte«, begann Neél und sprach dabei so leise, dass ich ihm nachgehen musste, um ihn besser zu verstehen, »ist, dass die Stadt auch schöne Seiten hat. Du siehst sie bloß nicht. Für dich gibt es keinen Himmel in der Stadt. Für mich gibt es diesen.« Er deutete nach oben, ohne seinen Blick folgen zu lassen. »Für mich ist die Stadt Zwang und Angst -«
    »Und Gefangenschaft.«
    »Und Gefangenschaft, ja. Aber für mich ist auch der kleine Edison die Stadt. Er ist nicht wie die Lieder, die er singt, er muss nicht so werden.«
    »Offenbar wollen sie ihn aber so machen«, entgegnete ich. Die Möglichkeit, der Intimität zu entfliehen, die das Gespräch entwickelt hatte, erleichterte mich. Seine Worte gingen mir plötzlich so nah - aber trotz meiner Angst regte sich tief in mir der Wunsch nach noch größerer Nähe.
    »Ich weiß. Edison hat die Order bekommen, nicht mehr mit mir zu reden. Das und der Tote auf Graves’ Weg sind deutliche Zeichen. Sie wissen, dass Graves zu viele Fragen stellt.«
    »Und sie wissen, dass du viele Worte mit Graves wechselst«, führte ich seine Aussage weiter.
    »Es gefällt ihnen nicht. Wir scheinen auf der richtigen Spur zu sein.«
    Ich spürte, wie mir Schweiß im Nacken ausbrach bei dem Gedanken, der mich mit einem Mal überkam. »Oder ihr folgt einer Spur, die jemand ausgelegt hat, um euch in eine Falle zu locken. Neél! Bist du sicher, dem Kleinen trauen zu können? Was, wenn er dich verrät?«
    Neél schüttelte entschieden den Kopf. »Das wird er nicht.«
    »Was macht dich da so sicher.«
    »Er liebt mich. Er denkt, er wäre mein Bruder.«
    Die Worte hingen eine Weile unschlüssig in der Luft. Ich konnte nichts damit anfangen und fragte mich bereits, ob ich sie einfach ignorieren oder mit einem »Ach so« abfertigen sollte.
    Neél stieß ein Geräusch aus, das nicht ganz Seufzen und nicht ganz Grunzen war, sondern irgendetwas dazwischen. »Ich war damals auf der Suche nach der Frau, die mich geboren hat, verstehst du? Als ich ihn in diesem Auto fand, voller Angst vor der Sonne und Misstrauen, da war das Erste, was mir einfiel, ihm zu erzählen, ich sei sein Bruder und unsere Mutter würde mich schicken, um ihn zu beschützen.«
    »Du hast das nie richtiggestellt?«
    Einen Moment lang schürzte er die Lippen und sah im höchsten Maße trotzig aus. Trotzig und so jung, dass ich mich erstmals fragte, ob ich womöglich älter war als er.
    »Ich war selbst fast noch ein Kind«, antwortete er. »Und ich hatte gefunden, wonach ich suchte. Ich konnte mir einreden, es wäre wahr und ich hätte einen kleinen Teil von dem, was ich so gerne haben wollte.«
    Eine Familie.
    »Ich verstehe«, flüsterte ich, aber Neél wand sich dennoch von mir ab. Er zerrieb winzige Thujazweigspitzen zwischen seinen Fingern, ich roch ihr Aroma und starrte auf seine Hände.
    »Er wird dich nicht verraten«, sagte ich, weniger, weil ich dem Jungen vertraute, sondern nur, weil ich ihm gerne vertraut hätte. Ich berührte Neéls Oberarm. Er atmete aus.
    »Wenn doch, war es das wert.«
    Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. »Ich bin wirklich überrascht von dir, Neél. Wie viele Geheimnisse hast du noch?«
    »Nur noch ein einziges.« Und dann, schneller als in einem Kampf und sanfter als in einem Tanz, drehte er sich um und zog mich an sich. Ich spürte warme, raue Haut an meinem Hals. Mein Puls donnerte ihm gegen die Handfläche. Er hatte sich zu mir herabgebeugt und sein Mund war so nah an meinem, dass ich seinen Atem riechen und auf den Lippen hätte spüren müssen. Aber er atmete nicht.
    Ich bewegte mich nicht, es gab keinen Grund, mich zu bewegen. Ich hoffte, er würde es auch nicht tun. Jeder Schritt weiter wäre nicht rückgängig zu machen und würde unweigerlich etwas zerstören, das wir vielleicht noch brauchten.
    In meinem Magen schienen kleine Tiere aufgewühlt herumzukrabbeln. Etwas tiefer wurde mein Körper ganz warm.
    »Schhht«, machte ich so leise ich konnte, um zu retten, was zu retten war.
    Das zwischen uns, das war wie der Wind. Stürmisch, pfeifend, eisig und rau, voller Zorn, aber ebenso mild, berührend oder zärtlich flüsternd. Solange es frei war, konnte es all das sein. Wenn wir es festhalten würden, blieb uns vermutlich bloß Luft in den Händen.
    Ich machte einen halben Schritt zurück. Neél ließ

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