dark canopy
durchgekocht, schmeckt er gut. Soll er brennen, der Percent, soll er brennen.«
Neél verschluckte sich fast bei dem Versuch, sein Lachen zu unterdrücken. »Eure Kinder singen solche Lieder und ihr behauptet, wir würden Menschenfleisch essen?«
»Tut ihr das denn nicht?« Ich feixte.
»Nicht wenn genug Alternativen da sind.« Er fasste sich an den Kiefer, als ob er überlegen würde. »Aber hilf mir rasch. Wer hat noch mal versucht, mich zu fressen?«
Ich spürte, wie ich rot wurde, was er trotz der Dunkelheit bestimmt sehen konnte. »Weißt du, was ich glaube? Solange wir klein sind, scheinen wir uns gar nicht so unähnlich zu sein. Nur dass bei uns die Kinder originellere Lieder singen.«
Er knuffte mich freundlich in die Seite, aber fest genug, dass es einen blauen Fleck geben würde. Dann stutzte er und sah die verfallenen Hausreihen entlang, die so ungleichmäßig vor uns aufragten wie eine Gruppe völlig unterschiedlicher, Spalier stehender Menschen.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
»Hier wohnt niemand. Wir sind allein.«
Er hatte recht. Hinter allen Fenstern war es dunkel. Ich konnte mich nicht erinnern, wann wir die letzte beleuchtete Straßenlaterne hinter uns gelassen hatten. Man hörte nicht den kleinsten Laut eines Lebewesens. Hauchfein wisperte lauer Wind durch die letzten Blätter kränklicher Linden. In einiger Entfernung knirschte eine Fensterlade, die der Luftzug sanft hin und her bewegte.
»Ich wollte dir noch etwas anderes zeigen«, sagte Neél. Er sprach deutlich, aber leise; kein Flüstern, sondern eine klare Aussage, bloß in der Lautstärke reduziert, nicht in ihrer Kraft.
»Was denn?« Meine Stimme und ich zitterten ein wenig, dabei war die Nacht mild.
Er wies nach oben. »Den Himmel. Du hast gesagt, dass du den Himmel brauchst. Da ist er.«
Eine Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper, als ich den Kopf in den Nacken legte. Es ließ sich nicht zählen, wie viele Stunden ich in den Nachthimmel gestarrt hatte, seitdem ich in der Stadt war. Aber nie hatte ich so viele Sterne gesehen. Ich hatte angenommen, es gäbe über der Stadt nicht die gleiche Anzahl an Sternen wie draußen in der Wildnis. Und dann, als fielen einige vom Himmel, leuchtete es plötzlich auch um uns herum. Glühwürmchen.
Ich rang um Fassung. »Wie hast du das gemacht?«
»Was meinst du?«
»Die vielen Sterne. So viele habe ich noch nie gesehen, seit ...« Ich verstummte.
Neél lächelte, aber darin lag nichts Fröhliches. »Da ist nichts bei. Ein windiger Abend und eine wolkenfreie Nacht reichen schon. Man muss an einen dunklen Ort gehen, wenn man Sterne sehen will. Sie verstecken sich vor dem Licht.«
»Die Nacht aber hüllt sich in Schwarz wie eine Witwe und verbirgt das Lächeln hinter dem Schleier«, zitierte ich leise. »Das ist aus einem Gedicht. Der alte Laurencio, unser Lehrer im Clan, hat es uns abschreiben lassen, hundert Mal, als Strafe für eine unsaubere Handschrift. Weißt du, was es bedeutet, Neél? Ich habe es so gehasst, dass ich nie nachgefragt habe.«
»Vielleicht ist es ein altes Gedicht. Ich glaube, Witwen trugen früher Schwarz.«
»Ich weiß leider nicht, was Witwen sind.« Das Sprechen war anstrengend, weil ich den Blick nicht von den Sternen lösen konnte.
»Frauen, deren Männer gestorben sind.«
Alex war also eine Witwe. In schwarzen Kleidern hatte ich sie noch nie gesehen, aber das machte ja auch keinen Unterschied, denn sie hätte es ohnehin nicht gesehen.
»Warum trugen die Witwen früher Nachtfarben?«, fragte ich.
»Mmmh«, machte Neél gedehnt, »zum Trost, vermute ich. Die Nacht ist schwarz. Und sie ist schön.«
»Kein Wunder, dass du das sagst.« Kaum hatte ich es ausgesprochen, tat es mir leid. Er konnte nichts dafür, dass das Sonnenlicht ihn quälen und töten konnte. Hatte er nicht recht? Wir Menschen hassten die Dunkelheit, weil sie uns aufgezwungen wurde. Würden wir die Nacht mit anderen Augen sehen, wenn es keine Unterdrückung, keinen Hass und keine Kämpfe gäbe? War wahrer Frieden zwischen unseren Arten überhaupt denkbar?
Menschenfresser, hallte es in meiner Erinnerung. Das Wort klang völlig absurd in Verbindung mit Neél.
Er ging ein paar Schritte weiter und fuhr mit den Fingern durch die Zweige einer wuchernden Thujahecke, die wie ein Zaun um das dahinterliegende Gebäude gezogen war. Thuja galt bei den Städtern als Zeichen der Hoffnung, ein weiteres Märchen aus irgendeinem ihrer Bücher.
Von den Menschen, die hier einst gelebt und gehofft
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