dark canopy
brannte immer weiter und weiter.«
Ich sah ihn fast vor mir, den winzigen, kahl geschorenen Graves, wie er mit den Armen sein Gesicht vor den Strahlen zu schützen versuchte und vor den Menschen floh.
Mir wurde schlecht.
Denn keine fünf Minuten Fußmarsch entfernt feierte zur gleichen Zeit eine kleine Familie die Geburt von Joy Annlin Rissel.
30
manchmal muss man falsche wege gehen,
um die richtigen zu finden.
Erst als Neél zurückkam, sich erschöpft auf den Teppich sinken ließ und den Kopf mit den Händen abstützte, als wäre er zu schwer geworden, kam mir der Gedanke, dass seine Rückkehr nicht selbstverständlich war. Sein Auftrag hatte einen kriegerischen Hintergrund, es hätte zum Kampf kommen können, durchaus auch zu seinem letzten. Man wusste vorher nie, wie ernst eine Situation wirklich werden würde.
Neéls Gesicht war mit Staub bedeckt, seine Lider vom Reiben ganz wund, aber er sah nicht aus, als hätte er gekämpft.
»Wie ist es gelaufen?«
Ich war froh, dass Graves diese Frage stellte. Egal wie ich es formuliert hätte, es hätte zynisch geklungen.
»Wir haben keinen Menschen außerhalb der Stadt gesehen«, antwortete Neél. Ich atmete erleichtert durch und sah das missbilligende Zucken in Alex’ Mundwinkeln.
Neél fuhr fort: »Wir haben bloß einen Bogen gefunden, in einem unterirdischen Tunnel, der wohl mal Teil der Kanalisation gewesen ist. Wir mussten das verdammte Ding zuschütten und hatten dafür nur die Werkzeuge, die uns die Bewohner aus der Gegend überließen. Meine Schaufel war morsch wie ein verfaulter Zahn.« Er betrachtete seine Handinnenflächen, die voller Schwielen waren.
»Bist Arbeit wohl nicht mehr gewohnt, Neél«, spottete Alex, aber niemand ging darauf ein. Seit Graves mir von seinem Blutsonnentag berichtet hatte, hing die Stimmung tief und trüb wie eine Herbstregenwolke zwischen uns.
Neél sah uns an. »Ist hier alles in Ordnung?«
»Immer.« Graves löste seinen Zopf und band ihn neu. Neél zog die Brauen zusammen und forderte mich wortlos auf, etwas zu sagen.
Die Zeit war reif.
»Ich habe etwas für euch. Bitte fragt nicht, woher ich es habe. Ich hoffe einfach, dass es euch ... nein, uns weiterhilft.« Ich verrenkte meine Arme bei dem mühseligen Versuch, die Papiere aus meinem Unterhemd zu ziehen. Ungeschickt wie ich mit meiner immer noch leicht steifen rechten Hand war, zerriss ich eine Ecke, aber dann gelang es mir endlich. Ich faltete die Bögen auseinander, legte sie auf die Tischplatte und strich sie glatt.
»Was hat sie da?« Alex kam näher und tastete nach der Tischkante. Auch Neél stand auf.
Graves’ Stimme war staubtrocken. »Irgendwann muss das mal Papier gewesen sein.«
Ich schluckte ein wenig Scham herunter. Die Blätter sahen wirklich erbärmlich aus. Sie waren mehrmals vom Regen und meinem Schweiß durchtränkt und wieder getrocknet worden und wellten sich. Die Schrift war verblasst, die Falzstellen, an denen ich das Papier sicher hundert Mal geknickt hatte, ausgefranst. Es schien, als hielten sie nur noch wenige Fasern zusammen.
»Keine Fragen nach der Herkunft, hast du gesagt?« Graves berührte die Überschrift, strich über das an einen stilisierten Wolfskopf erinnernde Symbol und sah mich dann mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen an. »Aber eine Frage musst du mir erlauben, Joy. Willst du denn deine Jacke gar nicht zurückhaben?«
Stille breitete sich aus.
Wie konnte Graves von der Jacke wissen? Ich sah Hilfe suchend zu Neél, aber er erwiderte meinen Blick völlig ahnungslos.
»Joy, was ist? Was ist das für Papier?« Neél beugte sich darüber, während Graves mich fixierte, als wolle er mir, über den Tisch hinweg, geradewegs ins Gesicht springen.
»Hilft uns das weiter?«, fragte Neél.
Ich machte einen Schritt zurück als Zeichen, dass ich es beim besten Willen nicht wusste.
»Nein«, sagte Graves und entließ mich endlich aus seinem Blick. »Ich habe schon versucht, es zu übersetzen. Die Symbole und alle Worte, die häufig in Kombination auftauchen, sind abgezeichnet und katalogisiert.«
»Habt ihr das heute Nachmittag gemacht?«, fragte Alex.
Neél runzelte die Stirn und sah mich an. Er ahnte natürlich, dass das nicht möglich war. Auf einmal war es mir sehr wichtig, dass er von mir erfuhr, was passiert war. Ich wollte nicht von der Wahrheit bloßgestellt werden - nicht vor ihm.
»Die Blätter gehören mir nicht«, sagte ich. »Ich habe sie jemandem gestohlen, der sie in der Schule versteckt
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