dark canopy
es in mir. Ich räusperte mich und fand es an der Zeit, das Thema zu wechseln, ehe wir uns völlig zwischen Worten verliefen, die nirgendwohin führten. »Bist du enttäuscht von mir, weil ich die Papiere erst jetzt hergegeben habe?«
Neél tat das, was er am besten konnte: Er irritierte mich. »Ich wusste davon.«
»Du wusstest davon? Aber wie -?«
»Als du Fieber hattest und bewusstlos warst, habe ich jeden Tag deine Bettlaken ausgewechselt. Dabei sind mir die Blätter in die Hände gefallen.«
Er sagte das ganz unbekümmert, aber der Gedanke, dass er mich aus dem Bett gehoben hatte, ließ mich erröten. »Und du hast sie einfach wieder zurückgelegt?«
»Natürlich. Sie gehören dir. Sie gehören auch weiterhin dir, ich bringe sie dir, wenn du sie zurückhaben willst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich brauche sie nicht. Jetzt nicht mehr.«
Neél blickte auf und im grauen Dämmerlicht sahen seine Augen erstaunlich normal aus. Fast wie bei einem Menschen. »Ich habe sie zurückgelegt, weil ich neugierig war. Ich wollte wissen, ob der Tag kommen würde, an dem du mir ein bisschen vertraust.«
»Es hat lange gedauert«, murmelte ich. Verdammt. Ich hätte ihm doch vor den anderen davon erzählen sollen.
»Ich hätte nicht erwartet, dass es überhaupt so weit kommt. Bleib kurz stehen, Joy.«
Ich wusste, wohin das führen würde. Ich war vielleicht eine Niete, was Zwischenmenschliches betraf - und der Kerl war nicht einmal ein Mensch, du lieber Himmel! -, aber ich war nicht vollkommen ahnungslos. Wir würden uns ansehen, er würde mich berühren und dann würde er mich küssen und ich würde ihn zurückküssen. Wenn ich jetzt stehen blieb, war das unausweichlich, dann gab es keine Möglichkeit, es nicht zu tun, keine noch so winzige.
Ich ging weiter. »Lieber nicht.« Ich presste die Lippen zusammen und tat so, als ignorierte ich sein leises, bittendes »Joy«. Mein verräterischer Körper ignorierte es nicht. Er kribbelte und brannte überall. Aber ich war stärker. Immer wenn ich nachzugeben drohte, rief ich mir in Erinnerung, dass ich seine Gefühle noch brauchte. Ich war im Begriff, ihn zu verraten und unsere Freundschaft zu benutzen. Ich konnte ihm nicht nachgeben. Nicht weil ich nicht wollte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher. Aber ich hatte ein höheres Ziel. Es gab Wichtigeres als meine Wünsche.
• • •
An diesem Abend fand ich ein Messer in meinem Bett.
Es lag direkt unterhalb des Kissens auf dem Laken, von der Decke versteckt, damit es von niemandem entdeckt wurde, der zufällig mein Zimmer betrat. Ich hätte mich fast im Slip auf die Klinge gesetzt und mein erster Gedanke war: In der Sonne soll er schmoren -der verrückte Percent wird mich noch umbringen, beim simplen Versuch, mir ein Geschenk zu machen!
Vorsichtig nahm ich das Messer an mich. Ich betrachtete es, wog es in den Händen und ließ meine Fingerspitzen über die Schneide gleiten. Vielleicht war meine Hand durch die Verletzung zu ungeschickt, vielleicht war ich aber auch bloß überrascht: War die Klinge schon immer so perfekt gewesen? Neél musste sie geschliffen und poliert haben. Ich schnitt mich prompt daran. Sie war so scharf, dass ich es zuerst gar nicht spürte. Ich sah nur das Blut. Es lief den Griff entlang, rann in die eingeschnitzten Linien, die meinen Namen formten, und tropfte mir in den Schoß.
Mein Messer war mir einst so vertraut gewesen wie meine eigene Gefühlswelt. Jetzt schnitt ich mich daran. Am einen wie am anderen.
31
»du glaubst, es wäre leicht, matthial?
du glaubst es wirklich.«
Matthial kam sich vor wie bei einer Audienz mit einem Phantom.
Jamie führte den größten Clan im Land und jedermann sprach seinen Namen voller Respekt aus, doch gesehen hatte ihn kaum jemand. Es gab flüsternde Stimmen, die behaupteten, es gäbe ihn gar nicht. Aber nun wusste Matthial es besser, denn er saß ihm gegenüber auf einem strohgefüllten Kissen über wurmstichigen Holzdielen. Der Wind pfiff um die Wände und durchs Fenster war in der Ferne flackerndes Wetterleuchten zu erkennen. Donner grollte.
»Das Gewitter zieht vorbei«, sagte Jamie. Er musste es ja wissen. Vermutlich hatten die Blattläuse es ihm erzählt, während er vor dem Gespräch minutenlang mit geschlossenen Augen auf dem Balkon gestanden und dem Wind gelauscht hatte.
Matthial hatte gewusst, dass sie in Baumhäusern lebten. Er kannte die Gerüchte, laut denen Jamie und sein Clan naturverbundene Menschen waren. Aber in diesem Dorf sprachen sie
Weitere Kostenlose Bücher