dark canopy
ab. Es roch nach Neél, ich nahm das durch all den Rotz und die Tränen wahr und spürte trotz Streit und Unverständnis ein klein wenig Halt. Die Erinnerung daran, wie leicht er mich im Trainingskampf wieder und wieder besiegt hatte, machte mir klar, was er sonst noch alles mit mir tun könnte. Er tat es nicht. Er war nicht wie Widden.
Er war ein Percent und er war anders.
Er war Neél.
Und wenn Amber es zuließ, dann würde er sie für mich retten. Ich hatte alles geplant.
Ich legte meiner Freundin eine Hand auf die Schulter und sah sie fest an. »Ich muss dich etwas fragen. Es ist wichtig, also denk gut nach. Angenommen, du könntest wählen. Freiheit oder Sicherheit. Amber, was wäre deine Wahl?«
Sie biss sich auf die Unterlippe und zog mit den Schneidezähnen etwas rissige Haut ab. Ein kleiner Blutfleck blieb zurück. »Es gibt keine Sicherheit.«
»Und wenn es sie gäbe?«
»Was denkst du denn!« Sie klang fast aggressiv. »Ich war lange genug frei - wir waren es beide. Was hat die Freiheit uns gebracht?«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Es war entschieden. Sie hatte gewählt. Sie hatte Sicherheit gewählt. Neél. »Du wirst sehen«, sagte ich. »Helden findet man dort, wo man nicht nach ihnen sucht.«
• • •
Spät in der Nacht kehrten wir ins Gefängnis zurück. Ich war erschöpfter als nach einem harten Training und wusste, dass ich trotzdem keinen Schlaf finden würde.
Neél sprach kaum mit mir. Den ganzen Weg über spürte ich seine Wut. Ich roch, dass er Gebrannten getrunken hatte. Zu viel davon. Er ließ mich in mein Zimmer und wandte sich sofort zum Gehen. Ich wünschte, ich könnte ihn gehen lassen, aber das durfte ich nicht.
»Neél? Bleib einen Moment, ja?«
Er fasste nach dem Türrahmen, als könnte er ohne Halt nicht mehr gerade stehen. »Lass mich. Ich muss duschen.«
»Kommst du zurück?«
»Mal sehen.«
Ich glaubte nicht daran. Unruhig stiefelte ich im Raum auf und ab, warf Blicke aus dem Fenster und lauschte an der Tür auf Schritte, die nicht kamen. Eine gefühlte Ewigkeit verstrich. Hatten wir nicht längst schon wieder Morgen?
Neél kam mit nassem Haar zurück. Wasser lief ihm aus dem schwarz glänzenden Zopf in sein frisches Hemd und durchtränkte den ganzen Rücken. Dort, wo die obersten Hemdknöpfe offen standen, war seine Haut gerötet wie nach großer Hitze.
»Ich musste den Rauch aus der Bar abwaschen«, erklärte er. Er klang, als wäre seine Zunge müde. »Er setzt sich auf die Haut, dringt in den Körper und ... er macht, dass einem alles egal ist, verstehst du? Man erträgt das Gefühl nur, wenn man trinkt, und das verstärkt die Gleichgültigkeit noch.«
»Gehen die Percents aus dieser Gegend oft in solche Clubs?« Die Percents waren mir egal, es ging mir konkret um Widden.
»Anders ist es schwer auszuhalten, wenn man am unteren Ende der Hierarchie lebt.«
»Das erklärt einiges.« Ich sprach schon wieder zu scharf - ich würde noch alles verderben -, aber ich konnte es nicht ändern.
Neél setzte sich auf das Bett, in dem er früher geschlafen hatte. »Ist dein Gespräch so verlaufen, wie du es dir erhofft hattest?«
Ich konnte nicht aufhören, wie ein eingesperrtes Tier umherzulaufen. »Es war so, wie ich befürchtet hatte.«
»Und das wiederum hatte ich befürchtet.« Er rieb sich die Augen. »Das ist schon verrückt. Ich versuche, dich die guten Seiten meiner Welt sehen zu lassen, und du verlangst, dass ich dir die übelsten zeige. Die Kloake der Stadt.«
Wie gerne hätte ich nur an Graves und ihn gedacht und alle Horrorszenarien auf Übertreibungen und Gerüchte geschoben. Aber all das war Ambers Realität. »Sie würde mich nicht interessieren, wenn nicht meine Freundin mittendrin gefangen wäre.«
Er seufzte. »Cloud hatte recht. Ich hätte dich nicht mit ihr sprechen lassen dürfen.«
»Du weißt, dass es falsch gewesen wäre, das zu verhindern.«
»Falsch für dich? Ja. Falsch für mich? Nein. Was machst du nur mit mir, dass ich mir all das antue?«
Es lief schief. Ich hatte gehofft, er würde etwas sagen wie: Ich kann nichts für deine Freundin tun, denn dann könnte ich rufen: Doch, du kannst sie retten! Erhebe Anspruch auf Amber!, aber er sagte es nicht. Wusste Neél von meinen Plänen und lenkte uns geschickt um all die Punkte herum, die ich mir zunutze machen konnte? Oder bekam ich selbst die Wahrheit nicht über die Lippen? Und warum? Womöglich, weil ich Angst hatte, er würde ablehnen. Oder aber, weil ich fürchtete, er würde
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