dark canopy
es nicht tun. Die Vorstellung, er würde sein Leben tatsächlich mit Amber verbringen, ließ etwas in mir drin ganz kalt werden. Ich würde es nicht ertragen, ihn weiterhin zu sehen, so viel stand fest.
Ich sank auf meine Pritsche. Mein Kopf fiel auf die Matratze wie ein Stein. Ohne Gedanken darin. Wie tot. »Ich kann nicht mehr, ich kann das nicht«, flüsterte ich lautlos. Er hörte es trotzdem und kam zu mir.
»Es ist bald vorbei.« Er kniete vor meinem Bett und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare, von den Schläfen und der Stirn bis zum Hinterkopf. Erst als der Schmerz etwas nachließ, bemerkte ich, wie weh mir mein Kopf getan hatte. Meine Augen fielen zu.
»Kannst du heute Nacht bei mir bleiben?« Ich wollte nicht allein sein. Nicht, solange Amber ihre Nächte in Angst verbringen musste. Nicht, solange ich nicht den Mut hatte, etwas dagegen zu tun.
Neél fuhr fort, mein Haare mit den Fingern zu kämmen. Er winkelte den anderen Arm an und legte den Kopf darauf. »Ich bleibe genau hier.«
• • •
Irgendwann wurde ich wach. Wann war ich eingeschlafen?
Neél hatte sein Wort gehalten und saß immer noch auf dem Boden, den Kopf auf meiner Matratze. Er schlief. Seine Hand lag in meinem Nacken. Ich berührte seine Stirn mit den Fingerspitzen, fuhr den Schwung seiner Augenbrauen nach. Seine Mundwinkel zuckten im Traum. Dann murmelte er meinen Namen und ich musste lächeln. Die ersten Nächte hatte er sich Stoffreste in den Mund gestopft, damit ich nicht hören konnte, was er im Schlaf redete.
Und in diesem Moment der absoluten Stille, in tiefster, witwenschwarzer Nacht, war ich mir plötzlich sicher.
Er hatte sich in mich verliebt. Er würde alles tun, worum ich ihn bat.
Ich verfluchte still meinen Vater und den Unsinn, den er mir von nach innen laufenden Tränen erzählt hatte. Offenbar war es zu spät für mich. Ich hatte zu viele Tränen nicht geweint. Mein Geist war völlig ausgespült, so leer und reingewaschen, dass ein neuer Mensch in mir Platz fand.
Ein Mensch, der Neél lieben konnte.
Und diesem neuen Menschen fiel es plötzlich schwer, ein Rebell und eine gute Freundin zu bleiben und das Richtige zu tun.
33
fetzen sind besser als nichts.
Wir kämpften.
Jeder auf seine Art und mit seinen Mitteln, aber wir kämpften. Gegeneinander. Und füreinander. Gleichzeitig.
Ich schrie ihn in Gedanken an. Er vergewaltigt meine Freundin! Rette sie! Rette mich!
Neél reagierte darauf, so gut er konnte: Gar nicht. Stattdessen besorgte er uns noch einmal die beiden Pferde und ritt mit mir aus. Ich sollte zurück in die stille Siedlung, was mir einen kalten Schauer über den Rücken rinnen ließ. Doch wir mussten nachschauen, ob das bissige Kind noch dort war und Hilfe brauchte. Wer außer uns sollte ihm helfen?
Die Luft war so schwül, dass die Pferde schon im Schritt schwitzten. Sie trotteten mit gesenkten Köpfen voran. Meine Braune empfand es sogar als zu heiß, um nach Neéls Fuchsstute zu schnappen, an die sie wie beim letzten Mal mit dem Lederseil festgebunden war. Als Dank für ihren Gehorsam gab ich mir die größte Mühe, die aufdringlichen Pferdebremsen totzuschlagen, die nach unserem Blut lechzten. Neél beobachtete das Ganze mit einem Schmunzeln. Keins der abscheulichen Insekten zeigte Interesse an seinem Blut. Doch er nahm sich ein Beispiel an mir und vertrieb die, die sein Pferd stechen wollten.
Die stille Siedlung war noch stiller geworden, wenn das überhaupt möglich war. Kein Lufthauch rührte sich zwischen den Gassen und der Staub lag auf der Erde wie totgeschlagen. Unweigerlich fragte ich mich, ob Einsamkeit irgendwo eine Grenze hatte - ein Punkt, an dem alles so vereinsamte, dass es einging - oder ob sie immer weiter steigerbar war, bis man so allein war wie der letzte Gedanke des letzten Menschen auf der Welt, lange nach dessen letzter Erinnerung.
»Hier ist niemand«, sagte Neél, als wir die Brücke wieder überquert hatten. Keiner von uns hatte zwischen den stillen Häusern auch nur ein Wort sprechen wollen.
»Vermutlich nicht, nein.« Höchstens Rebellen, die nicht gesehen werden wollten. Ich kannte den Unterschied zwischen nicht sichtbaren Menschen und nicht existierenden Menschen. »Lass uns zurückreiten.«
• • •
Wir rasteten im Schatten des Waldes an einem Bach, der vom Fluss abzweigte. Dünn wie ein Häutchen floss er über rund gewaschene Kiesel. Ich ließ meine Schuhe am Ufer stehen, krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch und trat ins Wasser. Es war
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