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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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dürfen.«
    Mir kam beinahe mein Mageninhalt hoch. »Warum sollte er das tun?«, fragte ich lahm. Ich schlurfte zu meiner Pritsche und ließ mich darauffallen, denn plötzlich war mein Körper zu schwer, um den Rücken gerade zu halten.
    Er seufzte. »Um mich zu beleidigen. Vermute ich. Zusammenhalt ist unter unseresgleichen das höchste Gut, auch wenn du das als Mensch sicher nicht verstehst. Ich habe mich vor einiger Zeit von ihm abgewandt und ihm meine Loyalität versagt. Das nimmt er mir übel.«
    Das war denkbar, auch wenn ich schwer nachvollziehen konnte, dass ein Percent von moralischen Werten sprach. »Was sollte ich mit dem Pass?«, murmelte ich.
    Er sah mich an, ganz kurz nur, aber ich erkannte genug. Er hatte meine Loyalität testen wollen, meinen Gehorsam ihm gegenüber. Und ich hatte nicht bestanden.
    Ich verspürte das Bedürfnis, auf den Boden zu spucken, so gallig schmeckte der Gedanke, ihm zu gehorchen.
    »Du kommst von außerhalb der Stadt«, meinte er, aber ich merkte, dass alles, was er sagte, nur dazu diente, mir auszuweichen. »Ich dachte, du könntest den Mann, dem der Pass gehörte, womöglich kennen.«
    Ich horchte auf. »Er ist ein Mensch?«
    »Nein. Ein Percent. Aber er kam nicht aus der Stadt.«
    Natürlich nicht, die Schrift war ja fremd. Er musste von weit her kommen. Von jenseits des Ozeans. Aber vielleicht ahnte Neél nicht, dass ich das wusste. Die Städter konnten selten lesen und schreiben, jede Schrift sah für sie gleich aus: Striche, Linien und Kringel, aus denen sie nicht schlau wurden. Neél konnte lesen und schreiben, aber er hatte keine Ahnung, dass ich es auch konnte. Er musste also wissen, dass der Percent, dem der Pass gehörte, nicht von außerhalb der Stadt war, sondern von außerhalb des Landes. Aus einer Welt, die - möglicherweise - anders war.
    Meine Finger zitterten ein bisschen, ich grub sie in die Bettwäsche. »Kennst du ihn? Hast du mit ihm gesprochen?«
    Er schüttelte den Kopf, rieb sich die Kehle. »Ich dachte, du wüsstest vielleicht etwas darüber, schließlich kommst du von den Rebellen.«
    »Tut mir leid.«
    Der Pass kratzte an meinem Knöchel. Ob er ihn mir wegnehmen würde? Ohne zu wissen, warum, verfestigte sich mein Wunsch, ihn zu behalten. Wenn man nichts hat, können aus den wertlosesten Dingen Schätze werden.
    • • •
    In dieser Nacht hörte ich Neél im Schlaf atmen.
    Vielleicht lag es daran, dass ich ihn gewürgt hatte. Vielleicht achtete ich auch nur bewusster darauf. Solange er ruhig atmete, war ich sicher. Ich schloss nicht aus, dass er mir den Angriff mit dem Seil doch noch übelnehmen und mich strafen würde. Andererseits ... nach dem letzten Angriff, am Waldrand im Schnee, schien er zufrieden mit mir gewesen zu sein. Und auch diesmal hatte er kein Wort darüber verloren, dass ich ihn fast erdrosselt hätte. Er nahm es mit der gleichen Selbstverständlichkeit hin, wie er mich geschlagen und fast umgebracht hätte. Vielleicht bewirkte diese Welt, in der man Gehorsam mit Zusammenhalt verwechselte, dass auch jene die Brutalität zu schätzen lernten, die in Wahrheit an ihr zweifelten?
    Den Pass hatte er mir gelassen. Ebenso meine erste Waffe. Das Lederseil. Und nun schlief er, während ich wach war.
    • • •
    Ich träumte in dieser Nacht.
    Ungewöhnlich, ich träumte selten, aber nun tat ich es. Ich träumte davon, dass ich Neél mit meinem Lederstrick würgte. Er schrie. Sein Schreien irritierte mich, es regte mich auf, machte mich fertig. Er sollte still sein! Ich zog das Seil fester zu, immer fester, bis es durch seine Haut schnitt, seine Kehle durchtrennte und schließlich seine Wirbelsäule. Er schrie noch immer. Er hörte einfach nicht auf. Sein Kopf fiel auf den Boden. Ich versuchte, ihn an den Haaren zu packen, griff aber ins Leere, und der Kopf kullerte davon, während er noch immer schrie. Ich träumte, ich sähe ihm nach, während ich den Rest von Neél an den Schultern hielt, damit er nicht umfiel. Panik überkam mich. Neél würde nie zu schreien aufhören. Sein Kopf würde durch das ganze Land kullern und schreien, ich konnte ihn nicht aufhalten, er würde schreien, schreien, schrei-
    Ich schrak hoch, rieb mir hastig die Augen, zog an meinen Ohren und raufte mir mein Haar. Der Traum ging nicht weg - er haftete an mir wie Pech. Immer noch hörte ich Neél schreien. Von weit weg jetzt, aber das nahm dem Geräusch nichts von seinem Grauen.
    Das Licht fiel fahl und grau durchs Fenster. Frühe-Regenmorgen-Farbe.
    Ein Knurren

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