dark canopy
Tisch.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Den Weg in meine Kammer würde ich sicher wiederfinden. Zwar durfte ich längst nicht alle Gänge betreten und die meisten hatte ich bis heute nie zu Gesicht bekommen, aber ich hatte Matthials Tipps zur besseren Orientierung angewandt: Wann immer ich konnte, zeichnete ich Grundrisse und Karten vom Gefängnis. In den Staub, in Sand, in Kies, in Schnee oder mit dem Zeh ins verrinnende Wasser, wenn ich duschte. So festigte sich das Bild in meinem Kopf; ich sah anhand der sich wiederholenden Muster, wo vermutlich weitere Gänge lagen, und konnte abschätzen, wohin sie führten.
Aber ich wusste nicht, ob ich zurückkehren durfte, das war das Problem. Mir schien, als ob Neél mich in den Speiseraum gebracht hatte, weil er allein sein wollte. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten damit, ihn zu verärgern, das war es nicht. Doch ich erkannte die Momente, in denen es klüger war, es nicht zu tun. Manchmal musste man Gehorsam Vorspielen, um sich durchzusetzen. Mein Vater hatte versucht, mir das beizubringen, aber gelernt hatte ich es letzten Endes von Mars.
Als mir das sinnlose Warten zu dumm wurde, verließ ich den großen Saal und schlenderte mit meinem Blechteller in der Hand einen Gang entlang, der in einem Grau getüncht war, das sicherlich einmal Lindgrün gewesen war. Aus dem nächsten Raum erklang Geklapper. Die Tür stand offen, also lugte ich hinein. Die graue Frau stand an einem gewaltigen Wasserbottich, in dem ein Mann hätte lang ausgestreckt liegen können. Dampf stieg daraus auf und bildete silberne Perlen auf ihrer Stirn.
»Ich helfe dir«, sagte ich, als ich sah, dass sie die Teller spülte, wie ich einen in den Händen hielt. »Wenn du erlaubst? Ich habe gerade Zeit.«
Ein fragendes »Hm?« antwortete mir, aber es klang nicht abweisend und obwohl sie nicht zu mir aufsah, rückte die Frau ein Stück zur Seite, sodass ich neben sie an den Bottich treten konnte. Das Wasser war schmierig von zu viel Seife und schrecklich heiß, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, wusch Teller ab und stellte sie auf ein Gitter, wo sie abtropften. Es waren Dutzende Teller und Schalen, an vielen klebten getrocknete Essensreste von Speisen, die es vier Tage zuvor gegeben hatte.
Die graue Frau spülte ein Teil nach dem anderen und summte dabei mit leisem »Hm, hm, hmm« Melodien, die keine waren. Ihre Hände waren rot und rissig und vollkommen asymmetrisch. Die linke, die meist wie zu einer Klaue gebeugt war, hatte keinen kleinen Finger und an der rechten fehlte dem Mittelfinger das oberste Fingerglied; Ringfinger und kleiner Finger waren steif. Vielleicht hatte sie auch kein Gefühl mehr in den Händen, denn sie schien die Hitze des Wassers kaum zu spüren. Mir zog es die Haut über den Knochen zusammen, in die Seifenlauge zu greifen. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, aber ich tat es gern. Die Alte war Gesellschaft, wie ich sie gerade dringend brauchte: wortlos freundlich, ohne aufgesetzte Höflichkeit. Außerdem - das konnte ich mir ruhig eingestehen - machte sie mich neugierig. Wer war sie, wie war sie hierhergekommen und wohin würde sie gehen, wenn alle Teller gespült waren?
Ich fragte sie nicht, so wie sie mich nicht fragte, und das lag nicht an Beklemmungen, sondern daran, dass wir uns noch nicht genug kannten, um etwas Intimes wie ehrliche Worte auszutauschen. Wir beobachteten uns aus den Augenwinkeln und lächelten ertappt, wenn sich unsere Blicke trafen.
Nachdem alles gespült war, begannen wir, mit Stoffresten abzutrocknen. Währenddessen schloss das Grau uns ein: Die Stunden, in denen der Himmel freilag, waren vorüber, sie nahmen Dark Canopy in Betrieb. Der Raum hatte kein Fenster, aber ich bemerkte auch so, wie alles langsam seine Farben verlor und grau wurde wie die alte Frau. Selbst ihre Hände schienen nun bleigrau, ihre Nägel gelblich und das Fleisch darunter violett. Ich rieb den letzten Becher trocken und stellte ihn auf den Wagen.
Was nun?
Ein Schatten beantwortete meine Gedanken. Neél stand in der Tür. »Bist du fertig?«
Ich warf der grauen Frau einen Blick zu, sie gab ihr unverbindliches »Hm, hmm« von sich und ich beschloss, dies als Ja zu verstehen.
Ich lächelte ihr zu. »Bis bald.«
»Hmm.« Sie lächelte auch, erstmals mit geöffneten Lippen. Ihre Schneidezähne waren abgebrochen. Jeder einzelne.
Neél und ich begaben uns nach draußen, gingen durch das bewachte Tor, nahmen diesmal aber nicht den üblichen Weg zum Stadtrand.
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