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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Stattdessen führte er mich ins Zentrum. Über den Dächern erkannte ich schon die Schemen des Hotels, das wie ein Turm über allen anderen Gebäuden wachte. Es hieß, vor der Übernahme hatte es viele solcher riesigen Gebäude gegeben. Die Percents hatten sie alle abgerissen, um ihre Kommandozentrale an den höchsten Punkt der Stadt zu setzen, ins oberste Stockwerk des Hotels.
    Neél hatte ein anderes Ziel. An der großen Kreuzung bog er nicht auf die Straße ein, an der die Häuser mehrere Hundert Jahre alt waren, die Fenster bogenförmig und so hoch, dass ein Mann darin hätte stehen können, und die Fassaden verziert mit Fresken und Reliefs. Dieser Weg führte zum Hotel. Neél aber ging nach links durch das Viertel, in dem überwiegend Lebensmittel gelagert und getauscht wurden. Die Händler saßen hinter geöffneten Erdgeschossfenstern und reichten ihre Waren hinaus. Wer weniger Angst vor Dieben hatte, handelte an der offenen Tür oder stellte einen Wagen vors Haus. Wenn wir sie passierten, diese Menschen, dann senkten sie den Blick. Vorsichtigere machten das Zeichen für Respekt. Vor Neél. Und manche auch vor mir (was mir unangenehm war).
    Neél ignorierte alle. Hin und wieder griff er in einen Wagen oder einen Korb, nahm etwas heraus, eine Kartoffel, einen Apfel oder eine Nuss. Er steckte alles in die Tasche oder gab es mir. Ich war immer noch pappsatt, aber ich hätte es selbst bei Hunger nicht gegessen.
    »Warum tust du das?«, fragte ich, als wir an ein paar Häusern vorbeigingen, deren Fenster und Türen verschlossen waren. »Diese Leute haben selbst nicht genug nach dem langen Winter. Du kannst ihnen das wenige, was sie haben, nicht wegnehmen, ohne dafür zu bezahlen.«
    Er verzog die Lippen zu diesem sanften, aber falschen Lächeln, das so viel Zynismus in den Mundwinkeln versteckte. Wann hatte ich gelernt, die Feinheiten seiner Mimik zu erkennen?
    »Ich könnte ihnen alles nehmen. Alles. Daran erinnere ich sie.«
    »Warum?«
    »Als Zeichen. Damit sie zufrieden sind und glücklich, wenn ich es nicht tue.«
    Ich stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. »Das ist unnötige Grausamkeit«, sagte ich, aber ich senkte die Stimme, denn der nächste Mensch, ein kantiger Mann, der sein struppiges Haar mit einem schmalen Tuch aus dem Gesicht band, kam in Hörweite.
    Neél schmunzelte. Er nahm eine Haselnuss, die er vorhin gestohlen hatte, aus der Tasche und knackte sie zwischen den Zähnen. Die Bruchstücke ließ er mir in die Hand fallen.
    Verfault.
    »Alles, was wir tun, sind Zeichen«, sagte er.
    Der struppige Straßenhändler ballte eine Faust, berührte mit ihr Brust, Stirn, Mund und die Innenseite der anderen Hand. Das Zeichen für Respekt.
    Neél nahm im Vorbeigehen eine Rübe aus seinem Wagen, ohne hinzusehen. Dann sprach er weiter: »Dies ist meins. Wer hinschaut, erkennt es.«
    Er warf mir die Rübe zu. Ich fing sie auf und sah, dass sie an der Unterseite vollkommen verschimmelt war. Ein rascher Blick über die Schulter - der Händler neigte den Kopf. Dankbar. Ich staunte und betrachtete Neéls scharfes Profil nach dem nächsten Blinzeln mit anderen Augen. Auf gewisse Weise ärgerte mich das alles. Neél spielte den grausamen Percent, der sich alles nehmen konnte, um mich herauszufordern und mir zu beweisen, dass ich irrte. Und der verdammte Mensch begriff auf Anhieb, was mir verborgen blieb!
    Das Gefühl, überall fremd zu sein, kehrte zurück. Gab es noch einen Menschen auf der Welt, der mich verstand? Und den ich verstand? Oder würde ich wie die graue Frau werden, zum Schweigen verdammt, damit meine Worte keine Gräben schufen, die ich nicht mehr überwinden konnte? Wenn es mir nicht gelang, die Stadt zu verlassen, bestimmt. Ich rieb mir das Gesicht, versuchte die Gedanken abzureiben. Sie hatten Widerhaken und ließen nicht von mir ab.
    • • •
    Ich trottete mit gesenktem Kopf hinter Neél her über einen großen Platz. Der Frühling ließ sich nicht mehr leugnen. Durch Risse im Asphalt brach das erste Unkraut. Wir bewegten uns auf ein flaches Gebäude zu, auf dem die schiefen Buchstaben TESCO thronten, die wohl ursprünglich rot gewesen waren. Das S hing auf dem Kopf. Die Ladenfront war offen, vermutlich hatte sie mal aus Glas bestanden. Trotzdem war es im weitreichenden Inneren finster wie in einer Höhle. Ein Wiehern erklang in der Düsternis und schallte von den Wänden wider.
    Eine Pferdeanlage? Was wollte Neél hier?
    Wir blieben im Eingangsbereich stehen. Ich roch die Tiere, ihr herb

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