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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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zweiten Scheibe Brot. »Wie bist du denn überhaupt an die Passierscheine gekommen, wenn das nicht so einfach ist?«
    Er grinste, es sah durch und durch böse aus. »Cloud hat ein paar Privilegien. Was denkst du, warum ich so ein Theater veranstaltet habe, weil du ›nur‹ ein Mädchen bist.«
    »Frau«, korrigierte ich und hob das Kinn.
    »Dafür bist du viel zu knochig.«
    Ich schnaubte, beließ es aber dabei, weil er grinste. »Es lag also nicht daran, dass ich nicht zum Soldaten taugte?«
    »Lass mich das klarstellen: Du warst erbärmlich zu Anfang. Aber das Potenzial war zu erkennen. Ich habe das verschwiegen, um bessere Bedingungen rauszuschlagen.«
    Nun war ich es, die fies grinste. »Wenn ich Cloud das erfahren lasse, dann wird er dich in Stücke schneiden und roh verspeisen.«
    Neél sah mich an. Seine Pupillen waren riesig und fast rund. »Das glaube ich kaum. Er isst seit dreißig Jahren kein Fleisch mehr.«
    Diese Percents schafften es immer wieder, mich zu überraschen. »Gar keins?«
    Er schüttelte langsam den Kopf. »Wehe, du lässt ihn jemals wissen, dass ich dir das erzählt habe. Kurz nach der Übernahme, als die Kämpfe vorbei waren, hat er eine Weile in der Nähe des Schlachthofs gelebt. Er war noch jung damals, ein Kind, hatte aber schon Hunderte Krieger fallen sehen, Menschen wie Percents. Das war sein Alltag, er war ja im Krieg geboren. Als er damals die Tiere schreien hörte, folgte er den Geräuschen und schlich sich in den Schlachthof. Was er dort sah, hat er mir nie erzählt. Aber von da an, behauptet er, hat er nie wieder ein Stück Fleisch gegessen.«
    Ich legte mein angebissenes Brot auf die Tischplatte. Mein Magen war wie zugeschnürt, ich schluckte gegen die Übelkeit an. »Dann kennt ihr das, was wir Mitgefühl nennen?«, fragte ich ganz leise.
    Neéls Lächeln verschwand. »Kein Gefühl, das ihr kennt, ist uns fremd.«
    »Und trotzdem behandelt ihr uns so?«
    Die Frustration füllte meinen Kopf und erschwerte mir das Denken. Sie war wie ein Stoffknebel im Mund, der die Zunge austrocknet und verhindert, dass man spricht. Wenn es wahr war, dass sie fühlten, dann gab es keine Erklärung und keine Entschuldigung. Weder für das Leben, das wir Menschen unter ihrer Herrschaft führten, noch für das, was Neél mir angetan hatte. Betroffen starrte ich die Tischplatte an.
    »Wir sind nicht alle gleich«, sagte Neél. Er streckte die Hand aus und berührte meine Finger, so flüchtig, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir vielleicht bloß eingebildet hatte.
    Ich zog meine Hand zurück. »Gestern noch hat jemand auf deinen Befehl hin eine Waffe auf mich gerichtet.«
    »Gestern musste ich befürchten, dass du wegläufst. Ohne meinen Befehl hätten die Wachleute dich in dem Fall erschossen.«
    Ich verstand nicht. »Aber du hast -«
    »Den Befehl gegeben, im Ernstfall auf das Pferd zu schießen. Ja.«
    »Wirklich?«
    »Wirklich.« Er schluckte, es knackte in seiner Kehle. Vielleicht, weil auch sein Mund trocken war. »Jeder tut das, was er für richtig hält. Ich zeige dir heute, was ich meine, vielleicht verstehst du es dann.«
    »In Ordnung«, sagte ich. Im Stillen grübelte ich über seine Worte nach, während er aufstand und in der Kiste neben seinem Bett herumwühlte. Wenn jeder tat, was er für richtig hielt - was tat ich dann?
    Mit wachsendem Entsetzen registrierte ich, dass mein Leben sich darauf beschränkte, das Chivvy zu überleben und freizukommen. Das sollte es schon gewesen sein? War das das Richtige? Ich dachte an meine Freunde. Rief mir Ambers verstörtes Gesicht vor Augen; versuchte, Matthial vor mir zu sehen. Sein Gesicht hatte kaum noch Konturen, sie verloren Tag für Tag an Schärfe, wie Tintenstriche, die im Wasser verlaufen. Auch an das Rebellenkind, das mich angefallen hatte, musste ich denken. Vielleicht war das ja meine Chance, etwas Richtiges zu tun?
    »Neél?«, fragte ich leise und merkte im gleichen Moment, dass er das Messer, mit dem er das Brot geschnitten hatte, direkt neben mir liegen gelassen hatte. In den Brotkrümeln auf dem Tisch standen Buchstaben, er hatte sie mit den Fingern hineingezogen.
    DEINS
    Ich berührte die Klinge mit den Fingerspitzen. »Neél, dieses Wesen, das mich gestern gebissen hat ... werdet ihr es jagen?«
    Er drehte sich zu mir um, sah mir erst ins Gesicht und dann auf meine Hand. Ich hatte einen Stoffstreifen um die Wunde gewickelt. Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht nicht.«
    »Das ist eine blöde Antwort.«

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