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dark canopy

Titel: dark canopy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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Ich nahm den Dolch und war mir bewusst, dass Neél mich dabei beobachtete. Mit der freien Hand verwischte ich die Krümel. Dann verbarg ich das Messer zwischen meinem Hosenbund und dem hineingesteckten Hemd. Ich musste an ein Wort denken, mit dem man uns als Kindern Angst gemacht hatte, vor allem, nachdem meine Mutter gestorben war. Städtisches Waisenhaus.
    »Wirst du es verraten, Neél? Werden sie es jagen, fangen und einsperren?« So wie mich?
    Seine Brust hob sich unter einem lautlosen Seufzen. »Sag du mir, was zu tun ist. Ich weiß es nicht. Kann es da draußen überleben? Oder verurteilen wir es zum Tod, wenn wir schweigen?«
    »Es ist stark!« Meine Antwort kam zu schnell. Ich hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht und Neél wusste das. Glaubte ich wirklich, dass es so einfach war? Konnte dieses verwahrloste Kind allein überleben? Oder würde es sterben für den Preis der Freiheit, den ich vorgab?
    »Ich bin nicht sicher«, erwiderte Neél. »Lass uns darüber nachdenken. Jetzt ist Frühling, da kommt es bestimmt zurecht. Vor Herbst und Winter muss sicher nichts geschehen, wenn der Sommer nicht zu trocken wird. Vielleicht ist es bis dahin ja auch längst verschwunden.«
    Ich hätte ihm dankbar sein müssen, weil er mir Zeit zum Nachdenken gab, ohne meine Antwort schlechtzureden. Aber ich war es nicht, weil ich mir eine andere Antwort erhofft hatte.
    • • •
    Als Dark Canopy die Stadt in Finsternis gehüllt hatte, gingen wir los. Wir hielten uns rechts vom Gefängnis, wanderten eine lange, sacht ansteigende Straße hoch und erreichten die Gegend, in der die Schule lag, in der ich mich an jenem schicksalshaften Tag versteckt hatte, als Amber gefangen genommen wurde. Nach der Schule passierten wir einen kleinen Park, in dem Bäume standen. In ihrem Schutz lag ein See, seine Oberfläche schimmerte durch die noch kahlen Äste wie eine Pfütze aus schwarzem Öl. Zwei Schwäne zogen darauf ihre Bahnen. Sie waren weiß wie Gespenster. In der Nähe standen Mirabellenbäume, sie begannen schon zu blühen, grau wie Weidenkätzchen, aber nicht pelzig. Der alte Laurencio hatte erzählt, dass diese Blüten vor der Übernahme weiß gewesen waren. Weiß wie die Schwäne. Und einmal hatte er gesagt, dass sich nach seinem Tod wohl keiner mehr daran erinnern würde, dass es weiße Blüten gab. Ich hatte ihm geantwortet, es nie zu vergessen, aber er meinte: »Joy, etwas zu wissen, ist etwas anderes, als es gesehen zu haben.« Wie alt der alte Laurencio wohl war. Wie alt mochte er noch werden? Lebte er überhaupt noch? Würde ich es je erfahren?
    Über mir, in einem knorrigen Gestrick aus Zweigen, trällerte ein Rotkehlchen und riss mich aus meinen Gedanken. Das erste Rotkehlchen des Jahres.
    In jedem Frühling war es ein frustrierender Anblick und meist verbrannten wir feierlich einen Kranz aus immergrünen Zweigen, ein paar getrockneten Früchten und Federn als Zeichen für unsere zerstörte Hoffnung, wenn wir es sahen. Dieses Jahr war ich allein mit Neél, da lag es nahe, den Moment mit ihm zu teilen.
    Ich deutete nach oben. »Die Rotkehlchen und manche anderen Vögel ziehen, bevor die Winterkälte kommt, in ferne Länder, wo sie besser überwintern können, wusstest du das?«
    »Tatsächlich? Ich hatte mich schon gewundert, wohin sie jedes Jahr verschwinden. Ich dachte, sie würden sterben, aber woher sollten dann im Frühjahr die neuen kommen?«
    »Lernt ihr so was nicht bei euren Lehrern?«
    »Bei wem?«
    »Die, die euch Lesen und Schreiben beibringen.«
    »Nein. Ist es denn wichtig?« Er zuckte mit den Schultern, befand es dann aber offenbar sehr wohl für wichtig, denn er fragte: »Warum kommen sie zurück?«
    »Das fragen sich alle und keiner weiß es.« Ich warf dem Rotkehlchen noch einen letzten Blick über die Schulter zu. »Vielleicht ist es da, wohin sie fliegen, im Sommer zu heiß. In jedem Fall beweist ihre Rückkehr eins: Wo auch immer sie im Winter bleiben - es gibt Dark Canopy auch dort. Denn Vögel lieben die Sonne und das Licht. Wenn es an einem Ort der Erde, an dem sie vorbeikommen, länger hell und sonnig wäre als hier, dann würden sie dortbleiben.«
    Neél antwortete nicht. Er ging weiter, so gleichmäßig, als würde er seine Schritte zählen.
    »Weißt du nichts darüber?«, fragte ich in die Stille.
    Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, und als er es auf meine Nachfrage hin wiederholte, hörte ich nur: »... wir werden sehen.«
    Wenig später blieb er vor einem Haus stehen, das

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