Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
zu spüren, an jeder Hausecke, in jedem Kind, in jedem Erwachsenen, dem sie unterwegs begegneten. Und sie spürten, wie diese eigenartige Melancholie auch von ihnen Besitz ergreifen wollte. Das beklemmende Gefühl startete im Herzen und breitete sich von dort über den ganzen Körper aus.
«Fühlt ihr das auch?», fragte Ephrion schließlich. «Es drückt mich schier in den Boden.»
«Es ist, als würde jeder eine Last mit sich herumschleppen», versuchte Aliyah es zu beschreiben.
«Ist mir vorher nie aufgefallen», stellte Ephrion fest.
«Mir schon», sagte Aliyah. «Aber ich glaubte immer, ich wäre die Einzige, die es spürt.»
«Woher kommt das?», fragte Ephrion.
«Es hängt wohl mit dem Nebel zusammen», meinte Aliyah.
«Seht nur, wie gebückt die Leute sich durch die Straßen schleppen», bemerkte Ephrion. «Und ihre Augen. Irgendwie ist ihr Blick so … so erloschen … ohne Perspektive.»
«Nur zur Erinnerung», mahnte sie Katara, «die Burg befindet sich auf der anderen Seite der Stadt. Wenn wir es rechtzeitig zum Kloster schaffen wollen, müssen wir einen Zahn zulegen.»
Sie beschleunigten ihren Schritt. Doch irgendwie kamen sie kaum voran. Alles war so schwer und erdrückend, und jeder Schritt kostete so viel Kraft, wie wenn man durch tiefen Schnee stapft. Miro war es nicht wohl in seiner Haut. Sie kamen durch düstere Viertel, in die er sich niemals alleine gewagt hätte, schon gar nicht zu Fuß. Er kannte solche elenden Viertel nur vage und hatte sie bisher nur aus sicherem Abstand, etwa durch die Glasscheibe seiner Kutsche, gesehen. Auch den Gestank nach Müll, Kanalisation und verwesten Tieren hatte er nicht gekannt. Es wurde ihm schlecht, als er eine tote Katze am Straßenrand sah, deren offener Bauch von Würmern zerfressen wurde.
«Das ist ja fürchterlich. Und hier leben Menschen?»
«Willkommen in unserer Welt», sagte Ephrion.
«Wie haltet ihr diesen Gestank aus?»
«Mit der Zeit gewöhnt man sich dran», erklärte Aliyah. «Wir haben uns damit abgefunden.»
«Damit abgefunden?», entsetzte sich Miro. «Da muss man ja krank werden, wenn man unter solchen Bedingungen lebt.»
«Da hast du Recht», bestätigte Ephrion. «Viele sind krank und haben seltsame Geschwüre oder Wunden, die nicht zuheilen wegen des Nebels und der schlechten Luft. Viele sterben. Auch wegen der Dunkelheit. Es ist ziemlich übel.»
«Warum beschwert sich niemand bei den Stadtbaronen?»
«Die haben kein Gehör für das Schreien des gemeinen Volkes», sagte Aliyah. «Warum sollten sie sich um uns kümmern? Tausende von Menschen schuften sich in Drakars Fabriken zu Tode, damit die Stadtbarone und einige Adlige den Luxus von Veolicht genießen können. Und der armen Bevölkerung bleiben nur ein paar jämmerliche Kerzen, und häufig nicht mal das. Du solltest einmal die Schreie hören, wenn Drakars Sicherheitsgarde kommt und den Leuten das wenige Licht entzieht, das sie zum Überleben brauchen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, so leben zu müssen.»
Sowohl Miro wie auch Katara schwiegen verlegen, als das blinde Mädchen ihnen die Situation schilderte. Keiner von ihnen hatte geahnt, welche Zustände in der Stadt herrschten. Es war nicht so, dass sie die Wahrheit verdrängt hätten. Sie waren ganz einfach nie damit in Berührung gekommen. Es war kein Thema gewesen, sie hatten sich nie Gedanken darüber gemacht. Zum ersten Mal waren sie mit einer Realität konfrontiert, die in ihrer Welt schlicht nicht existiert hatte: eine Welt voller Armut, Elend und Dunkelheit. Der Kontrast hätte nicht größer sein können zwischen dem Leben, das sie kannten, und dem Leben dieser Menschen hier, die wie Tiere dahinvegetierten und jeden Tag ums nackte Überleben kämpften.
«Ich habe nicht gewusst, dass es so schlimm ist», murmelte Katara beschämt.
Sie kamen an einer Bar vorbei, aus der lautes Gegröle drang. Ein paar düstere Gestalten hockten davor, brüteten dumpf über ihren Getränken und warfen den vier Jugendlichen verächtliche Blicke zu, als sie sich ihnen näherten. Miro schauderte es bei ihrem Anblick. Er glaubte, sie würden jeden Moment von den kleinen Tischchen aufstehen und sie auf offener Straße ausrauben. Einer grinste unverhohlen und spuckte provokativ auf den Boden, als sie an der Bar vorbeigingen. Katara ballte instinktiv ihre Fäuste und musste sich zusammennehmen, um dem Typen nicht eine Lektion für diese Frechheit zu erteilen. Aber Aliyah spürte ihre Wut und fasste sie fest am
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