Dark City - Das Buch der Prophetie (German Edition)
Arm.
«Beachte sie nicht», raunte sie ihr zu. «Sie sind es nicht wert, dass wir unsere Zeit mit ihnen vergeuden.»
Kaum waren sie an der Bar vorbei, krachte es im Innern, als hätte jemand eine Flasche zerbrochen. Ein lautes Fluchen war zu hören, und Sekunden später landete ein betrunkener alter Mann kopfüber auf den Pflastersteinen. Die Kerle, die draußen saßen, grölten und ließen den Mann einfach am Boden liegen. Keiner half ihm, sich aus der Pfütze zu erheben, in die er der Länge nach gefallen war.
Die Teenager liefen schnell weiter. Sie kamen an mehreren Landstreichern, zahnlosen Weibern und Straßenkindern vorbei, die fast an jeder Ecke hockten und um ein Almosen bettelten. Sie trugen keine Schuhe, und ihre Füße waren schwarz vor Dreck. Die meisten von ihnen waren bis auf die Knochen abgemagert und hatten große, traurige Augen. Sie rochen nach Urin, und ihre Haare war so verfilzt, dass sich bestimmt eine gesamte Läusekolonie in ihnen angesiedelt hatte. Miro wich ihrem erbärmlichen Anblick bewusst aus und versuchte, bloß stur geradeaus zu schauen. Ihre Gegenwart war ihm peinlich und unangenehm.
Etwas weiter vorne befand sich ein Berg aus Müll und Essensresten. Tausende von Schmeißfliegen umkreisten die Abfälle, und zwei streunende Hunde sowie mehrere fette, hässliche Ratten suchten den Berg nach etwas Essbarem ab.
Und dann sahen sie sie. Sie saß in Lumpen gehüllt unter einem Torbogen und hielt einen kleinen Jungen im Arm, dessen Beine völlig verkrüppelt waren. Die Frau war noch recht jung, und unter all dem Schmutz der Straße und ihren zerschlissenen Kleidern war zu erkennen, dass sie bestimmt mal sehr schön gewesen war. Der Knabe in ihrem Arm mochte um die sechs Jahre alt sein. Er hatte große dunkelblaue Augen, und sein Blick war so unendlich traurig und verloren, dass es Ephrion das Herz zerriss, als er an den beiden vorbeiging. Die Frau streckte ihm die hohle Hand entgegen und bat ihn mit leiser Stimme:
«Eine Gabe. Bitte habt Erbarmen. Nur eine kleine Gabe.»
Ephrion blieb stehen, von Mitleid erfüllt. Erwartungsvoll schauten die Frau und das Kind ihn an.
«Ich habe kein Geld», sagte Ephrion und kniete neben den beiden nieder. «Aber was ich habe, das möchte ich Euch geben.»
Er streckte seine Hände aus und legte sie dem Knaben auf seine verkrüppelten Beine. Katara, Miro, Aliyah und Nayati waren schon ein paar Schritte weitergegangen, als sie merkten, dass Ephrion fehlte. Sie gingen zu ihm zurück, und Katara meinte in vorwurfsvollem Ton:
«Ephrion, du weißt doch, dass wir knapp an Zeit sind. Was machst du denn da?»
Ephrion atmete tief ein und schloss die Augen. Er konzentrierte sich. Er spürte, wie seine Hände heiß wurden. Und dann geschah etwas Wundersames: Die Füße des kleinen Jungen, die zurückgebogen waren wie gestutzte Flügel, begannen sich auf einmal zu verformen. Sie drehten sich mit einem seltsamen Knacken nach vorne. Und seine krummen Beine, die nichts als Haut und Knochen waren, wurden auf einmal dicker. Muskeln bildeten sich, und die Beine wurden gerade. Der Junge blickte staunend an seinen wohlgeformten Beinen hinunter, und mit einem Satz sprang er auf seine Füße und begann zu laufen. Ja, er lief und sprang und machte Luftsprünge vor Freude. Er jauchzte so fröhlich, dass die Leute begannen, sich nach ihm umzudrehen. Neugierige Köpfe erschienen an den Fenstern der Gebäude. Es wurde getuschelt und mit Fingern gezeigt. Die Mutter des Kleinen saß einfach nur fassungslos da, und Tränen kullerten über ihr Gesicht.
«Mein Junge kann gehen!», stammelte sie und wischte sich über ihre feuchten Augen. «Ein Wunder ist geschehen! Mein Junge kann gehen!»
Sie blickte zu Ephrion, der heftig keuchend neben ihr am Boden kniete und ganz bleich im Gesicht war.
«Ihr habt meinen Jungen geheilt!», sagte die Mutter, und zwischen Freudentränen kam ein Lächeln auf ihr von Leid durchfurchtes Gesicht. «Ihr … Ihr habt meinen Jungen geheilt! Danke! Habt tausend Dank!» Sie ergriff Ephrions Hände und küsste sie. Dann begann sie zu schluchzen wie ein kleines Kind, während sie ihren Jungen beobachtete, der lachend die Straße hinauf- und hinunterrannte. Er war so unbeschwert wie ein kleiner Vogel, der sein Leben lang in einem Käfig eingesperrt war und die Freiheit wiedererlangt hatte.
«Ich kann gehen!», rief er. «Mama, sieh doch: Ich kann gehen!» Er kam hüpfend zurück, blieb völlig außer Puste vor Ephrion stehen und streckte ihm seine kleine
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