Dark Love
Arme, obgleich ich fühlte, wie schwach er war.
»Ich liebe dich auch, Nörchen«, sagte er mit heiserer Stimme.
Ich musste unwillkürlich lachen und es klang verzerrt durch meine Tränen. Nur er nannte mich Nörchen. »Nö« war mein erstes Wort gewesen. Meine Mutter hatte geglaubt, ich versuchte, meinen eigenen Namen auszusprechen, doch meinem Vater war klar gewesen, dass dies der Beginn einer langen Karriere in Sachen Widerspenstigkeit war.
Wir schwiegen einige Zeit. Seine Hand lag schwer auf meinem Rücken und die Knöpfe seines Nachthemdes drückten sich schmerzhaft in meine Wange – es war ein willkommener Schmerz, denn er zeigte mir, dass mein Vater noch immer da war, hier bei mir.
»Nora«, begann er. »Ich habe dir etwas zu sagen.«
»Ich habe dir tausend Dinge zu sagen.«
Er schob mich ein Stück von sich weg und ich setzte mich auf und sah ihn an. »Nein, mein Kind, du musst das verstehen … du bist besonders, unfassbar besonders.« Er vergrub seine zitternde Hand in meinen Haaren. »Mein Körper …«
Bevor er seinen Satz beenden konnte, begann es. Und ich sah es geschehen.
Er starb unter Qualen. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, als versuche er, den Ketten des Todes zu entkommen, die sich um ihn schlossen. Er riss den Mund weit auf, schnappte nach Luft und versuchte, seine letzten Worte hinauszupressen. Doch über seine Lippen kamen nur noch sinnlose Laute und ich begriff, dass es zwecklos war, sie verstehen zu wollen. Ich weinte um ihn, wie ich noch niemals geweint hatte, ich weinte, bis ich dachte, meine Lungen müssten ebenso blutunterlaufen sein wie seine Haut.
Sie erlaubten mir nur einen Moment mit dem toten Körper, der schon nicht mehr mein Vater war, bevor sie mich aus dem Raum führen wollten. Als ich begriff, dass sie mich wegbringen wollten, wurde ich zur Raubkatze. Ich kämpfte. Ich krümmte und wand mich in ihren Armen, ich schrie, ich rang um eine weitere Minute mit ihm, um eine weitere Sekunde , doch sie gewährten sie mir nicht. Sosehr ich mich auch wehrte, ein noch stärkeres Gefühl der Dringlichkeit schien sie anzutreiben. Schließlich wurde ich von zweien seiner Ärzte buchstäblich aus dem Raum getragen.
Noch in dieser Nacht brachten sie seine Leiche zum Bestatter, wo sie bis zum Begräbnis bleiben sollte. Als ich versuchte, ihnen durch die Haustür zu folgen, schlang Salvez seine dünnen Arme von hinten um mich und hielt mich zurück. Mich hatte die Trauer schon so weit geschwächt, dass mir zum Kämpfen jede Kraft fehlte.
Tante Gene, schroff wie eh und je, betrauerte den Tod meines Vaters, indem sie sich erst mit dem Floristen und dem Priester und schließlich mit dem Steinmetz besprach, der das Todesdatum auf den Grabstein meißeln sollte. Nicht ein einziges Mal sah ich sie weinen. Ich verstand, dass dies ihre Art war, mit dem Tod ihres Bruders fertigzuwerden, doch es erschien mir so kalt . Ich habe ihr das noch immer nicht verziehen.
Ich zog mich in mein Kinderzimmer zurück. Es war ein großer, fröhlicher Raum, eingerichtet für ein kleines Mädchen. Puttenreliefs schmückten die rosa Decke und geschnitzte Engelsflügelchen den Parkettboden. Ich verkroch mich in meinem riesigen Puppenhaus, dem Altar meiner Kindheit, und rollte mich zwischen meinen Stofftieren und anderem Spielzeug zusammen. Wie lange ich dort gelegen habe, weiß ich nicht. Ich erinnere mich daran, dass durch die Schlitze der Fensterläden manchmal die Strahlen der Sonne drangen und dann wieder der Schein des Mondes. Ich blieb so lange dort, bis es mir gelang, eine andere Erinnerung an meinen Vater wachzurufen als die an das entsetzliche Schauspiel seines Todes. Es musste mir einfach gelingen.
Schließlich waren es die Erinnerungen an seine Geschichten, die mir halfen.
Mein Vater war ein begnadeter Geschichtenerzähler gewesen. Die Gedichte der alten Meister waren wunderschön und voller Lebendigkeit von seinen Lippen erklungen, genau wie die düsteren Erzählungen der Altviktorianer oder die Epen über die uralten Götter. Am liebsten hatte ich Geschichten über Kriege und Heldentaten gehört – jede freie Minute war erfüllt von diesen Geschichten und ich wollte sie eines Tages selbst erleben.
Während der folgenden Tage lebte ich mit diesen Erinnerungen, sie leisteten mir beim Essen und beim Anziehen Gesellschaft und sie begleiteten mich zur Beerdigung. Ich dachte an die vielen Male, als mein Vater mich in meiner kindlichen Phantasie hatte schwelgen lassen und mich für einen
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