Dark Love
Er schien weder geplündert noch durchsucht worden zu sein und man hatte ihn auf keinen Fall bombardiert. Wir ließen den Wagen am Eingang zurück und schlenderten langsam, beinahe ehrfürchtig durch den Medizintrakt, die Cafeteria und das Waffenlager.
Doch sowohl Beryl als auch ich wussten, wohin ich eigentlich wollte.
»Ich hole ein paar Sachen aus meinem Zimmer«, meinte Beryl und brach damit endlich die Stille. »Wir treffen uns dann in ein paar Minuten draußen beim Wagen, einverstanden?«
Ich nickte und ging weiter durch die Gänge auf Brams Zimmer zu.
Zuerst wollte ich dort nichts berühren, als wäre dieser Raum ein Tatort oder eine Gruft voller Opfergaben. Nach ein paar Minuten musste ich es aber doch tun, sonst wäre ich womöglich verrückt geworden. Ich rollte mich in seinem Schrank zusammen wie früher in meinem Puppenhaus und atmete seinen Geruch ein. Ich ließ meine Handfläche über die kühlen, ledernen Buchrücken gleiten, die sich so sehr wie seine Haut anfühlten. Sein Tagebuch und seine Uhr nahm ich mit.
Er hatte sich hastig für seine letzte Mission umgezogen und seine Paradeuniform lag noch auf dem Bett. Auf dem Boden fand ich einen der Manschettenknöpfe. Das eingravierte Z und die beiden Ringe darüber sahen von der Seite ein bisschen aus wie die Buchstaben NB . Ich starrte gute zwei Minuten darauf, bevor ich beschloss, den Knopf aufzuheben.
Als ich später am Abend wieder auf dem Luftschiff war, schnitt ich ein Loch in ein Samtband, das Beryl mir geschenkt hatte, und befestigte den Knopf daran, um es mir dann um den Hals zu binden.
Symbole sind machtvoll.
Als mein Vater das sah, entschied er sich, mich nach dem wahren Ausmaß meines Verlustes zu fragen. »Ich fühle mich«, sagte er und ließ den Blick über das vom Regen gesprenkelte Deck schweifen, »als hätte ich einen Sohn verloren.« Seine Hand zitterte leicht, wie sie es immer tat, wenn er tiefe Gefühle eingestehen musste. »Ich nehme an, dass auch du ihn schätzen gelernt hast? Er war ein so edler junger Mann.«
»So etwas in der Art«, gab ich gebrochen zu.
Papa war sofort an meiner Seite und zog meinen Kopf an seine Schulter. Er verurteilte mich nicht. Er hinterfragte nicht. Er ließ mich einfach weinen.
Er hatte nachfragen müssen, doch die anderen mussten es nicht. Sie ließen mir Raum. Sogar Samedi schaffte es, seine Zunge im Zaum zu halten. Er beschäftigte sich mit seinen neuesten Aufgaben, baute eine Beinschiene für Tom und ein komplettes neues Bein für meinen Vater. Manchmal verließ ich das Schiff und setzte mich zu ihm hinaus, während er arbeitete. Keiner von uns sprach ein Wort. Ich versuchte, mich mit dem Beobachten der Maschinen zu betäuben, die immer wieder vor und zurück fuhren, während aus dem Punktschweißbrenner an der Spitze Funken sprühten. Alles, um ein paar weitere Minuten verstreichen zu lassen.
Auch Renfield und Tom trauerten. Ihre Untätigkeit sagte mir, dass sie beide das Schlimmste befürchteten, doch sie versuchten trotzdem, zuversichtlich zu wirken. »Wenn es noch irgendeine Chance gibt«, beteuerte Tom, »dann mache ich mich auf und suche sie selbst. Bram ist mein Freund«, seine Stimme schwoll an, »und Chas ist mein Mädchen. Und wenn ich über den Wüstenboden kriechen muss, um zu ihnen zu kommen, dann werde ich das tun.«
»Aber nicht ohne mich«, sagte Renfield. Er legte seine schmale Hand auf meine. »Nicht aufgeben.«
Ich erinnerte mich an die Aufnahme, die mein Vater mir hinterlassen hatte, und nickte. »Sie sind noch immer da.« Diese beiden kurzen Sätze wurden zu unserem Code, unserem Mantra. Auch wenn keiner von uns wirklich daran glaubte. Wir hatten die Feuer gesehen. Wir hatten die Explosionen gesehen.
Nicht aufgeben. Sie sind noch immer da.
Ein paar Tage später erriet ich endlich das Passwort für Brams digitales Tagebuch. »Adelaide-Emily.«
Ich blieb bis spät in die Nacht wach und las es im Licht des Bildschirms, während mir Tränen über die Wangen strömten. Er hatte begonnen, es zu schreiben, als er der Armee beigetreten war, als er plötzlich erwachsen werden und sich anpassen musste. Er hatte schnell lernen müssen – wie man kämpfte und Strategien entwickelte, wie man ein Soldat war anstelle eines Jungen, der versuchte, seine Familie zu unterstützen. Ich erfuhr, wie sehr er seine Mutter vermisste und wie viel Aufmerksamkeit er dem Sonnenlicht, den gesunden Bäumen, die den Stützpunkt umstanden, und der fruchtbaren Erde dort schenkte; wie er meinen
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