DARK MISSION - Fegefeuer
diesen Umstand lieber dazu genutzt, so viel Entfernung wie möglich zwischen sich und ihn zu bringen. Trotzdem wollte sie ihn nicht im Stich lassen. Sie konnte es nicht. Er hatte ihr geholfen. Jetzt war es an ihr, ihm zu helfen.
Außerdem brauchte sie im Augenblick etwas, egal was, um sich daran festzuhalten. Das war der Grund, sonst nichts.
Der Jäger bestimmte die Richtung. Sie hielten auf einen rostigen, ehemals orangefarbenen Pick-up zu, auf den er gezeigt hatte, kaumdass sie aus der Gasse raus waren. Der Jäger riss die Fahrertür auf. Halb schob, halb hob er Jessie auf den Fahrersitz. Unsanft drängte er sie weiter, hinüber auf den Beifahrersitz, während er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht selbst hineinhievte. Er verschwendete kein Wort an sie, ließ den Motor an und legte den Gang ein. Also hatte Jessie reichlich Zeit, seine harten Gesichtszüge zu mustern.
Ihr blieb die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Ein Hexenjäger. Und ein Held, zumindest für die fünf Sekunden, die es dauerte, bis Jessies Gehirn wieder funktionierte und die Information verarbeitet hatte.
Der Hexenjäger hatte sie gerettet.
Sie hatte ihn gerettet. Sie fragte sich allerdings, ob er genauso heroisch gewesen wäre, wenn er gewusst hätte, wer oder was sie war. Sie hätte ihr gesamtes Trinkgeld darauf verwettet: Er hätte sie sterben lassen in dieser Gasse, wenn er geahnt hätte, dass sie ein Hexe war.
Als der Pick-up mit quietschenden Reifen scharf wendete, verrenkte sich Jessie den Hals, um zu sehen, ob der betrunkene Biker in der Gasse sich vielleicht rührte. Sie erhaschte einen Blick auf ihn, mit dem Gesicht im Dreck, regungslos, genau wie der Jäger und sie ihn zurückgelassen hatten. Ihn und – oh Scheiße! – ihren Rucksack.
An der nächsten Kreuzung bog der Jäger scharf nach links ab und scherte hinter einem Wohnwagen aus, um ihn zu überholen. »Keine Sorge. Der Biker wird’s überleben.«
»Ein Glückspilz«, war ihre Antwort, harmlos genug. Nichtssagend, nichts verratend. Jessie beobachtete den Hexenjäger, während dieser den Rückspiegel mit einer aufgeschrammten Hand justierte. Obwohl sein Beruf Angst und Schrecken verbreitete, wirkte er auf eine schwer greifbare Art anziehend. Er hatte ein markantes Kinn, doch der Mund darüber war fein geschwungen, fast schon sinnlich. Das war Jessie sofort aufgefallen, als er sich an ihre Theke gesetzt hatte.
Ganz kurz hatte sie in diesem Augenblick mit dem Gedanken gespielt, sich über den Tresen zu beugen und von diesen Lippen, wie gemacht zum Küssen, zu kosten. Im Nachhinein war sie froh, dass siedem Impuls nicht nachgegeben hatte. Nicht einmal das Extra-Trinkgeld, das sie dafür eingestrichen hätte, war diesen Flirt mit dem Tod wert.
Jessies Blick wanderte hinauf zu dem wirren Schopf des Jägers aus kurzen, dunkelbraunen Locken. Zerzaust, der ganze Kerl. Aber dennoch konnte Jessie nicht umhin, die Kraft zu bewundern, mit der er sie einen halben Block weit mit sich geschleift hatte, obwohl er verletzt war und hinkte.
Das war genau dieselbe Kraft, die er nutzte, um im Schutze der Nacht unschuldige Menschen zu erdrosseln.
Jessie setzte ein entschlossenes Gesicht auf.
Wut ging von dem Jäger aus wie Wellen von einem ins Wasser geworfenen Stein. Die Aura lodernden Zorns war so eindeutig zu spüren, dass man dafür keine übernatürliche Gabe brauchte. Lange, schmale Finger, die zu allem fähig waren, umklammerten das Lenkrad mit solcher Kraft, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Mit dieser Wut im Bauch fuhr der Jäger seinem Ziel entgegen.
Aber welchem Ziel?
Der Tod und der lachende Narr. Waren das zwei verschiedene Personen? Scheiße, Calebs Prophezeiungen ergaben niemals auch nur irgendeinen Sinn!
Mit zittrigen Fingern strich sich Jessie den Pony der Rothaar-Perücke aus der Stirn. »Danke für die Hilfe…« Der Jäger verzog den Mund. »Aber«, fuhr sie fort und schlug einen leichten Tonfall an, »du kannst mich jetzt hier rauslassen.«
Der Jäger antwortete nicht. Er ging auch nicht vom Gas. Er reagierte überhaupt nicht auf das, was sie gesagt hatte. Sie biss sich auf die Lippe und zuckte zusammen, als dort prompt Schmerz zu pochen begann.
Es konnte nichts anderes als Zufall sein. Jessie hatte noch nie gehört, dass ein Hexenjäger eine Hexe gerettet hätte, nur um sie dann selbst umzubringen. Es sei denn, der Typ hier neben ihr im Wagen war eine Bestie, ein Abartiger der ganz besonderen Sorte.
Oder er hatte sie in ihrer neuen Verkleidung nicht
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