Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon- neu-ok
im ersten Stock, wo sie vorsichtig Glasscherben vor den Fenstern
verteilte. Wir hatten nicht genug Zeit, um sämtliche Fenster in Christians
riesigem Herrenhaus mit elf Schlafzimmern durch einen Bann zu schützen, deshalb
hatten Allie und ich uns auf die Türen und Fenster in Erdgeschoss und Keller
konzentriert, während Melissande sich um die Schutzmaßnahmen im ersten Stock
kümmerte. Jetzt richtete sie sich auf und warf mir einen fragenden Blick über
die Schulter hinweg zu, während sie gedankenverloren ihre mit Glassplittern
bedeckten Lederhandschuhe gegeneinanderschlug. „Was sagst du da von Belinda?
Was ist los mit ihr?“
Ich kam
schlitternd zum Stehen, wobei ich dem Glas, das vor einem nahe gelegenen
Fenster verstreut lag, gerade noch ausweichen konnte. „Sie ist weg. Sie spielt
sich als edle Märtyrerin auf und hat vor, sich zu opfern, um so Saer zu
vernichten. Verdammt! Ich wusste, dass irgendwas nicht stimmte, als sie mich
umarmte, bevor sie noch mal nach Damian geschaut hat. Niemand umarmt einen so,
wenn er nur vorhat, nach seinem Kind zu sehen!“
„Belinda
will Saer vernichten?“ Melissande schnappte nach Luft und ließ die Dose mit
Glasscherben fallen. Ich wirbelte herum und raste wieder nach unten, Melissande
dicht auf meinen Fersen.
Vor der
Haustür blieben wir unvermittelt stehen. „Kannst du sie öffnen?“, fragte sie.
„Sicher. Der
Bann soll einen davon abhalten hereinzugelangen, nicht raus zugehen.“ Ich
öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte nach draußen, um mich zu
vergewissern, dass davor nicht etwa eine Armee von Nazis aufmarschiert war. Die
Straße war leer und ruhig; nur ein paar einsame braune Blätter wurden von der
frühmorgendlichen Brise den Rinnstein entlang geweht. „Alles in Ordnung.“
Wir
schlüpften hinaus und blickten uns fröstelnd um. Christians Heim war ein frei
stehendes Backsteinhaus, die frühere Residenz eines Botschafters, die im
Gegensatz zu den Nachbargebäuden etwas weiter von der Straße zurückgesetzt
stand. An der Seite gab es einen kleinen Garten, hinter dem Haus eine Garage
und davor einen winzigen Vorgarten mit schmiedeeisernem Zaun. Um vier Uhr
morgens herrschte in dieser Gegend von London kaum Verkehr, darum hatten wir
die Straße ganz für uns allein, als wir den leeren Bürgersteig entlang
marschierten.
„Wohin gehen
wir?“, fragte Melissande. Ihre Stimme klang gedämpft und sie hatte die Arme um
sich geschlungen. „Bist du sicher, dass Belinda fortgegangen ist, um sich zu
opfern? Sie ist Saers Auserwählte - sie weiß nur zu gut, dass es auch sein Ende
wäre, wenn sie sich selbst zerstört.“
„Oh, sie
weiß, was sie tut. Oder sie bildet es sich jedenfalls ein.“ Ich blieb in der
Mitte der Straße stehen, um einen Blick zurück zu Christians Haus zu werfen.
Als Silhouetten gegen den dunklen Himmel zu erkennen, bewegten sich schwarze
Gestalten über das Dach, die dort rasch zusammengebastelte Sensoren verteilten.
Diese sollten uns jeden melden, der versuchte, über das Obergeschoss ins Haus
einzudringen.
„Erst
Adrian, jetzt Belinda... Ich weiß nicht, wieso alle glauben, die einzige Lösung
für das Problem mit deinem Bruder bestünde darin, sich selbst zu opfern...
Warum trennen wir uns nicht? Du gehst dort entlang, bis zur Kreuzung, und ich
nehme diese Richtung.“
„Aber sie
hat doch mindestens zehn Minuten Vorsprung! Wir holen sie bestimmt nicht mehr -“
„Sie hat
kein Auto und zu dieser Uhrzeit fahren weder Busse noch Züge. Der Himmel weiß,
dass man nie ein Taxi findet, wenn man eins braucht, also muss sie zu Fuß zu
Saer unterwegs sein. Ich nehme an, dass er sich nicht allzu weit weg von hier
befindet, was sie vermutlich weiß. Ich jedenfalls weiß es, wenn Adrian in der
Nähe ist.“
Melissande
erstarrte, schloss die Augen und hielt ein paar Herzschläge lang den Atem an. „Er
ist nahe. Sehr nahe.“ Sie öffnete die Augen wieder, und selbst im trüben Licht
der Straßenlaterne konnte ich ihre Angst sehen. „Oh Nell, was sollen wir denn
bloß machen? Wenn Saer weiß, dass Belinda vorhat, ihn aufzuhalten...“. Ihr
blieben die Worte im Hals stecken. „Ich war so dumm, so blind, aber jetzt
erkenne ich es deutlich. Vergib mir, Nell -“
Wir hatten
keine Zeit; sie würde mir ihr Herz ein anderes Mal ausschütten müssen, darüber,
wie ungerecht sie Adrian behandelt hatte oder wieso sie ohne zu zögern alles
geglaubt hatte, was Saer ihr erzählt hatte. „Du kannst dein Büßerhemd später
anlegen, nachdem wir
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