Dark Road
Mariette. »... nur weil du noch keinen gesehen hast ...«
Er hatte sie gehört.
»Du hast auch noch nie einen gesehen«, gab er zurück. »Oder etwa doch, Mum?«
Keine Antwort. Der Wind flüsterte und zischte zugleich.
»Hier«, rief er einen Augenblick später, noch immer irgendwo weit vor ihr.
»Hier«, flüsterte sie bei sich. Deutlich erinnerte sie sich an diesen steilen Aufstieg. Im Dunkeln. Allein. Mit einer schweren Last, unter der ihr beinah das Herz brechen wollte.
Jetzt hatte sie ihn eingeholt, mit rasselndem Atem. Er fuchtelte wild mit seinen langen, schmalen Händen in der Luft, wie immer, wenn er aufgeregt war. Seine Jacke war zerrissen, seine Augen leuchteten.
»Ich fand ihn, als ich einen neuen Weg zum Gletscher suchte«, stieß er hervor, »Er ist das aller-, allerschönste ... nein, nicht Ding, das kann man nicht sagen ...«
Mariette zog ihren Strickmantel fester um sich. In der Luft schien der Geschmack von Eis zu liegen. Sie griff nach Zacks Arm, als ob einer von ihnen beiden zu fallen drohte.
Das Gestrüpp war natürlich dichter geworden. Aber sie erkannte den Eingang zu der kleinen Höhle wieder. In dieser schrecklichen Nacht war es ihr gelungen, ihn mit großen Felsbrocken zu verstellen. In diese Felsspalte dort hatte sie ihre Laterne geklemmt. Der Schlitten, den sie so weit hinter sich hergezogen hatte, war hier schließlich zerbrochen. Die kaputten Teile wollte sie damals auf keinen Fall auf dem Weg zurücklassen, sie hätten das Versteck verraten. Also hatte sie die Reste des Schlittens nach Hause geschleift und im Feuer verbrannt, ein Teil nach dem anderen.
Die Felsbrocken, mit denen sie den Eingang blockiert hatte, waren so groß, wie sie sie unter Aufbietung all ihrer Kraft rollen konnte. Letzten Sommer noch hätte Zacks Kraft dazu nicht gereicht. Jetzt offenbar schon.
Sie sah ihm dabei zu, wie er in die Hocke ging und in die Höhle kroch. Sie folgte ihm, staunend und trauernd zugleich über die Macht, die ihn hierher geführt haben musste. Ihr Sohn hatte das Erbe gefunden, das sie so mühevoll versucht hatte zu verbergen.
»Und, was denkst du?«, flüsterte Zack.
Im nächsten Moment kauerten sie eng nebeneinander in der Höhle, vor ihnen der Schatz, den Zack ihr zeigen wollte.
Es war eine hölzerne Figur, etwas höher als einen Meter und an verschiedenen Stellen mit blau-grünen Scherben aus Wasserkristall durchsetzt. Eine junge Frau, ein Mädchen vielleicht noch, mit einem heiteren, wunderschönen Gesicht. Sie hatte die Hände vor der Brust gefaltet. Ihre geschwungenen Flügel ragten über ihre Schultern und umrahmten sie in der Form eines Herzens.
Zack legte die Stirn in Falten, um zu verbergen, wie stolz er war, und wartete darauf, dass seine Mutter etwas sagte.
Mariette schwieg.
Dann wandte sie sich plötzlich um und stand in der rauen kalten Nachtluft wieder auf. Sie entfernte sich ein paar Schritte und taumelte; sah sich selbst wie im Traum, sah, wie sie hinabstürzte, hinab, immer weiter bis zum Dach des Waldes unter ihr. Eine Rabenmutter, die ihre Söhne nicht beschützen konnte.
»Was denkst du, wie lange ist der Engel wohl schon hier?«,
rief Zack.
»Seit du zwei Jahre und drei Tage alt warst«, sagte sie. »Und Clovis war seit sechs Wochen auf der Welt. Also seit zwölf Jahren.«
Im nächsten Moment stand er direkt vor ihr und sah sie an.
»Wann ist Dad verschwunden?«
Sie erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts.
»Aber woher wusstest du, wo er ist?«
»Ich habe ihn hierher gebracht«, sagte sie nur.
Zack schwankte leicht nach hinten. »Du wusstest, dass er hier ist? Du hast ihn hierher gebracht?«
»Ich wollte dich beschützen. Dich und Clovis, uns alle, Zack.« Sie verstummte. Eine Pause entstand.
»Er gehört Dad, oder? Er war vorne auf dem Wagen, und der Wagen hat seinen Namen von ihm. Und du hast ihn versteckt, nachdem er verschwunden war?«
Wie jedes Mal, wenn er oder Clovis von ihrem Vater sprachen, spürte Mariette, wie ihr Gesicht sich verschloss und ernst wurde. Auch jetzt.
»Ja.«
»Wahrscheinlich hättest du den Wagen auch am liebsten hier versteckt, wenn es gegangen wäre.« Er schenkte ihr ein unsicheres Lächeln. Die Scheune beim Haus hatte sie verschlossen, hatte sogar Büsche vor ihren Eingang gepflanzt; trotzdem war sie Zack und Clovis nicht lange verborgen geblieben. Sie hatten das verrostete Schloss aufgebrochen, als Zack sieben Jahre alt war.
Sie lächelte nicht zurück.
Irgendwo weit oben am Berg ertönte ein kaum
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