Dark Room
aber sie beherrschte sich. Sie beherrschte sich ja immer. Fast immer.
Sie tastete auf Lorinas Rücken die Muskeln ab, bis sie Verspannungen fand, und lockerte sie mit geübten Griffen.
Die Stimmen unten hatten sich jetzt zu einem lauten Sprechchor zusammengeschlossen.
»Keine Sekten!«, rief die Menge außerhalb des Gartens.
»Weis uns den Weg, o Leidensmann«, sangen die Jünger hinter dem Tor. Evis Terrier jaulte dazu.
Tante Lorina erhob sich mit einem Mal ächzend und für Fiona so überraschend, dass sie zusammenzuckte und die öligen Hände vor sich hielt wie ein Operateur, der auf seine Handschuhe wartet. Lorina raffte den Kimono über der Brust zusammen, hängte sich die Cupcake-Clutch wie ein Kindergartenkind um den Hals und eilte zum Fenster. Sie öffnete es und brüllte mit schriller Stimme »Haltet endlich die Klappe!« hinunter. Ein paar Pfiffe quittierten ihren Auftritt, die anderen ignorierten die alte Frau am Fenster. Sie griff sich ein Tablett mit Muffins, störte sich nicht daran, dass ihr Morgenrock weit offen stand und die Menge ihre schlaffen Brüste sah, und bewarf Demonstranten wie Jünger mit Muffins. Die Leute johlten, einige lachten. Andere, die von den Kuchen am Kopf getroffen wurden, wandten sich ärgerlich zum Nachbarhaus. »Geht sterben!«, rief sie, und ihre Stimme überschlug sich dabei. Mit einem Krachen schloss sie das Fenster und zog die Vorhänge zu. Das Wohnzimmer wurde in dämmriges Licht getaucht.
Fiona wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab, trat neben sie und legte ihren Kimono über der Brust zusammen. »Geht sterben?«, fragte sie und hob die Augenbrauen.
Tante Lorina kicherte und verbarg den Mund hinter einer Hand. »Das schreiben sie in den Chatrooms, wenn jemand sie besonders nervt. Teenie VZ und so. Diese jungen Mädchen sind wie ein Rudel Wölfe. Eine suchen sie sich aus, und dann – bämm – fangen alle an zu beißen. ›Geh sterben‹ ist da noch relativ höflich.«
»Wieso bist du in einem Teenie-Netzwerk eingeloggt?«, fragte Fiona, und eine tiefe Falte erschien zwischen ihren Augen.
»Ach, ich mag diese Mädchen einfach, die sind wie meine jüngere Tochter, früher, als sie klein war, so frisch und wild.«
Direkt neben ihnen gab es einen lauten Knall. Jemand hatte etwas gegen die Fensterscheibe geworfen. Fiona spähte durch einen Spalt der Vorhänge nach unten. Mit einem weiteren Knall zerplatzte ein rohes Ei auf dem Glas.
»Ungeziefer«, sagte Tante Lorina, »man bräuchte einen gigantisch großen Wasserkessel, um die alle auszurotten.«
Etwas abseits der Menge erkannte Fiona eine vertraute Gestalt, und augenblicklich begann es in ihrer Brust zu kribbeln. Khakifarbene Hosen, den breiten Brustkorb in ein dunkelgrünes Armeeshirt gezwängt, und der ganze Mann deutlich größer als alle anderen: Püppi. Da war noch ein anderes, sehr viel leiseres Gefühl, eine Art innerer Schluckauf, fast wie eine kleine gute Nachricht, aber sie schob dieses ungewohnte Gefühl energisch beiseite. Ein Gedanke machte sich in ihr breit und beherrschte sofort ihren ganzen Körper: Da Püppi für die Security der Grinsekatze arbeitete, konnte er sie vielleicht höchstpersönlich auf die Gästeliste setzen. Dann würde sie heute Nacht doch noch ins Labyrinth gehen und endlich alles vergessen und anschließend ruhig schlafen. Der Gote hatte bestimmt wieder guten Stoff dabei, es würde Alkohol in rauen Mengen geben, und so viele nackte, warme, weiche oder muskulöse Körper. Niemand würde mit ihr sprechen wollen, sie fragen, wie es ihr ging, wer sie war oder was sie erlebt hatte. Sie würde einfach nur ficken, bis sie es selbst nicht mehr wusste, die Schwänze sich in ihr abwechseln lassen, ihr Gesicht in Mösen vergraben und auf ihr eigenes Keuchen hören, eine Sprache, die keinerlei Erinnerungen oder Assoziationen mit sich brachte als Lust.
Püppi stand ein paar Schritte von den Demonstranten entfernt, und Fiona überlegte, wen er beobachtete, die Sekte, die Gruppe vor dem Tor oder nicht doch vielleicht das Nachbarhaus. Wusste er, dass sie hier war? Erwartete er sie? Sie trat hibbelig von einem Fuß auf den anderen. Sie musste nach unten und ihn fragen, ob er sie ins Labyrinth einschleuste. Sie überlegte, ob sie ihn zu einem Dankbarkeitsfick überreden könnte, war sich aber ziemlich sicher, dass er darauf nicht eingehen würde.
»Kennst du da jemanden?«, fragte Tante Lorina, und Fiona drehte sich hastig vom Fenster weg.
»Nein«, log sie und bemerkte gerade noch, wie
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