Dark Secrets: Gesamtausgabe
wollte nicht aufwachen. Nie wieder wollte sie aufwachen, doch er ließ sie nicht sterben. Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen; Tränen, für die sie eigentlich keine Kraft hatte. Sie wollte nicht weinen. Er freute sich, wenn sie weinte.
„Sie wacht auf.“
Eine fremde Stimme ließ sie in Reglosigkeit verharren. Englisch. Jemand sprach Englisch.
Dann hörte sie noch eine Stimme.
„Dunkeln Sie den Raum ein wenig ab.“ Es war eine tiefe Stimme. Es war nicht er. Es war ein Fremder. Er klang nicht böse. Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augenwinkeln. Hinter ihren geschlossenen Lidern sah sie, dass es im Raum etwas dunkler wurde. Sie hatte so lange kein Tageslicht gesehen und war so neugierig auf die Sonne. Sie erinnerte sich kaum, wie es war, wenn die Sonnenstrahlen ihr Gesicht wärmten. Indem sie all ihren Mut zusammennahm, versuchte sie die Augen zu öffnen. Heftig blinzelte sie gegen das Licht an. Es schoss wie ein glühender Pfeil durch ihre Pupillen, durch die Stirn in ihren Kopf. Ein greller Schmerz, wie ein roher Nerv. Unweigerlich stöhnte sie auf und versuchte ihr Gesicht abzuschirmen. Doch ihr Arm war festgebunden.
„Dunkler!“ Die fremde Männerstimme klang plötzlich scharf. „Machen Sie dunkler, Mann!“
Sofort verschwand das grelle Licht und der Schmerz klang ab. Sie entspannte sich und atmete vorsichtig ein.
„Daria? Sind Sie wach? Können Sie mich hören?“
Ihre Lippen waren so ausgetrocknet, ihre Zunge geschwollen.
„Möchten Sie etwas trinken?“, fragte der Fremde, als hätte er ihre Geste aufmerksam beobachtet.
Ein richtiges Nicken brachte sie nicht zustande, doch sie bewegte den Kopf ein wenig nach unten. Gleich darauf hörte sie ein paar Schritte, die von ihr weg, und wieder zu ihr hinführten. Es waren schwere Schritte, als wäre der Fremde sehr groß oder sehr schwer.
„Ich berühre Sie jetzt am Rücken, um Sie aufzurichten“, sagte er leise.
Daria ließ zu, dass er einen Arm unter sie schob. Als würde sie nichts wiegen, hob er ihren Oberkörper an und brachte das Glas an ihren Mund.
„Nur ganz kleine Schlucke“, warnte er. „Nicht zu viel.“
Sie gehorchte und trank vorsichtig aus dem Becher, den er ihr hinhielt. Das Wasser war frisch und köstlich. Sie hatte solchen Durst, dass sie hätte einen ganzen See davon austrinken können. Viel zu schnell verschwand der Becher von ihren Lippen. Sie wollte ihn so sehr zurück, dass sie die Augen aufschlug. Zuerst war ihr Blick verschwommen, doch dann wurde er langsam klarer. Sie sah zu dem Mann auf, der sie noch immer festhielt. Unweigerlich zuckte sie zurück. Er war groß und dunkelhaarig mit wilden, ebenfalls dunklen Augen und einem verstümmelten Ohr.
„Haben Sie keine Angst“, sagte er ruhig, als hätte er mit dieser Reaktion gerechnet. „Sie sind hier in Sicherheit.“
„Wer …?“ Ihre Stimme hatte weder Kraft noch Ton. Es war fast, als wäre sie stumm. Sie blickte in das Gesicht des Fremden, blinzelte ihn aus ihren großen blauen Augen an.
Wer sind Sie?,
formte sie mit den Lippen.
Er zögerte kurz und zog die Stirn kraus, als müsste er über die Frage nachdenken. „Man nennt mich Spock.“
Sie versuchte sich an einem zweiflerischen Gesichtsausdruck, der seine Mundwinkel auf angenehme Art zucken ließ.
Name?,
fragte sie. Es war noch immer nicht mehr als ein Atemhauch.
Wieder zögerte er.
„Gabriel“, sagte er dann, als würde er selbst erst probieren müssen, wie sich der Name auf seiner Zunge anfühlte. „Ich heiße Gabriel.“
Sie lächelte selig.
Wie der Erzengel
, dachte sie.
Er hat mich gerettet.
Als sie kurz davor war, wieder in ruhigen Schlaf hinüberzudämmern, klopfte es plötzlich. Sie riss die Augen auf, wie sie es immer tat, wenn ein neues Geräusch zu hören war. Geräusche bedeuteten meistens Gefahr … und Schmerz.
„Komm rein!“, sagte der Fremde, der Gabriel hieß.
Ob er wohl Arzt war? Daria wusste es nicht, doch solange er in der Nähe war, schien ihr nichts passieren zu können. Ihr Kopf fühlte sich seltsam pelzig und taub an. Sie hatte das Gefühl, als wäre ein Teil ihres Gehirns schlichtweg eingeschlafen.
Als die Türklinke heruntergedrückt wurde, hielt sie den Atem an, drückte mit ihrer freien Hand unwillkürlich die von Spock.
Ein schwarzer Haarschopf tauchte im Türspalt auf und schließlich der groß gewachsene Mann, dem er gehörte. Sein tiefgrüner Blick traf sie, und sie wollte schon höflich lächeln, da durchzuckte sie ein schier unvorstellbarer
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