Dark Swan: Schattenkind (German Edition)
zurückhaltende Art. Manchmal ertappte ich ihn dabei, wie er mich auf eine Weise ansah, die mich nervös machte und eine Gefühlsaufwallung befürchten ließ. Sie blieb aber aus, was zeigte, dass er tatsächlich so geduldig und zufrieden war, wie er behauptet hatte. Das stellte er auch unter Beweis, als wir eines Tages zusammen zum Angeln fuhren.
Ich war vorher noch nie angeln gewesen. So etwas machte man in Tucson eher selten. Wir befanden uns auf einem kleinen, ruhigen See, der von Weidenbäumen umstanden war, in einem einfachen Motorboot, das gerade genug Platz für uns, unseren Fang und eine Kühltasche voller Cola, Saft und Milky Ways bot. Evan besah sich jeden Fang sehr kritisch und legte großen Wert darauf, dass wir nicht mehr fingen, als wir essen konnten. Alles andere wäre Verschwendung, erklärte er.
»Onkel Chuck macht einen tollen Ausbackteig«, sagte er. »Da können wir heute Abend mit einem Fisch-Barbecue loslegen.«
Das klang gut. Ich war am Verhungern, aber andererseits war ich das in der letzten Zeit praktisch ständig. Mein Appetit kannte seit ein paar Wochen, sehr zu Candaces Freude, keine Grenzen mehr. Ich versuchte ganz bestimmt nicht, mich beim Essen zurückzuhalten; trotzdem erinnerte mich jeder zusätzliche Bissen daran, dass ich noch um einiges dicker werden würde. Auch mein Gewicht war exponenziell angestiegen. Noch beschränkte sich die Zunahme auf meinen Bauch, aber mit jedem Tag kam ich mir ein bisschen träger vor, fühlte ich mich ein bisschen weniger wohl.
Ich mampfte ein Milky Way, um den schlimmsten Hunger zu stillen, und wusste natürlich, dass das kein Gynäkologe als vernünftige Ernährung gutheißen würde. Ich spülte den Schokoriegel mit etwas Apfelsaft aus einer Thermosflasche runter, was mich kurz an die Erntedankfeste des Eichenlandes erinnerte. Diese frischen Nächte mit ihren Lagerfeuern und mit Dorians Lächeln schienen schon eine Ewigkeit her zu sein.
Ich kehrte in die Gegenwart zurück. »Ich glaube, es gibt da ein paar Regeln wegen Schwangerschaft und Fisch. Das steht bestimmt in einer der Broschüren, die ich in der Praxis bekommen habe.«
»Ach, das wäre ja schade«, sagte Evan und warf seine Angel aus. Ein leichter Wind vom Wasser her nahm etwas von der Hitze und zerzauste ihm die Haare. »Wenn du jetzt keinen essen darfst, dann müssen wir aber zusehen, dass du eine doppelte Portion bekommst, sobald die Babys da sind. Wenn du dann noch hier bist, heißt das. Hast du dir darüber schon Gedanken gemacht?«
Ich sah zu, wie mein eigener Schwimmer träge im Wasser trieb. Soweit ich sagen konnte, machte ich technisch alles genauso wie Evan, bloß dass er mehr Fische fing. »Ehrlich gesagt, nein. Hauptsächlich bin ich damit beschäftigt, die Schwangerschaft hinter mich zu bringen, aber über den Rest muss ich mir auch bald mal ein paar Gedanken machen.« Ich seufzte. »Meinst du, ich sollte noch bleiben?« Was natürlich eine dumme Frage war, weil er ja nicht auch nur annähernd genug Hintergrundwissen besaß, um zu begreifen, was für ein Rattenschwanz da hintendran hing.
Er zuckte mit den Schultern. »Spielt keine Rolle, was ich meine. Ich hab dich gern hier bei uns, aber am Ende musst du tun, was du willst und was du für das Beste hältst.«
Ich hätte fast gelacht. »Ich glaube nicht, dass das schon mal irgendjemand zu mir gesagt hat.«
»Was? Dass du tun sollst, was du willst?« Sein Schwimmer verschwand im Wasser, und er zog versuchsweise an der Schnur. Wie sich herausstellte, hatte er schon wieder was gefangen. Verdammt. Wie machte er das bloß?
»Ja«, sagte ich. »Mein Leben war reich an wohlmeinenden Menschen, aber die meisten haben nicht lange gezögert, wenn es darum ging, mir zu sagen, was ich ihrer Meinung nach tun sollte.«
Evan holte den Fisch ein und befand seine Größe für angemessen. »Das machen die Leute ständig – und du hast das Zauberwort gesagt. Wohlmeinend. Die meisten haben gute Absichten dabei, aber die letzte Entscheidung kannst nur du selbst treffen.«
Ich dachte an mein letztes Treffen mit Kiyo zurück, als er versucht hatte, mich zu töten, um zu verhindern, dass unsere Kinder auf die Welt kamen. Das ging nun wirklich nicht als wohlmeinend durch. Dorians gnadenlose Art, mich zu beschützen, hatte zwar auf mein Wohlergehen abgezielt, aber zugleich auch seinen eigenen Zielen gedient. Mir war immer noch nicht klar, ob er, wenn es hart auf hart kam, auf meiner Seite oder auf der der Prophezeiung stehen würde.
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