Dark Village - Niemand ist ohne Schuld
die in dem weißen Sarg lag, mit Kränzen und Blumen und roten und weißen Bändern geschmückt.
9
Eine Ewigkeit davor war sie zu ihrer Verabredung unterwegs. Es war der wärmste Tag seit Langem. Sie trug Shorts und ein T-Shirt. Benedicte hätte gesagt, dass sie aussah, als würde sie zum Training gehen, nicht zu einer Verabredung mit jemandem, den sie mochte.
Aber so bin ich eben . Sie lachte in sich hinein. Klamotten waren doch wohl nicht wichtig. Mit Leuten, die sie nach ihrem Äußeren beurteilten, wollte sie eh nichts zu tun haben. Und es war einfach schrecklich warm.
Sie lief schnell, irgendwie hatte sie doch ein bisschen Angst. Wenn sie nun irgendeinem Bekannten begegnete und er fragte, was sie vorhatte? Sie hatte versprochen, niemandem davon zu erzählen.
Aber nichts passierte. Die Straßen waren wie leer gefegt, sicher lagen die meisten bei diesem schönen Wetter irgendwo auf der faulen Haut.
Sie erreichte den Wald. Die Bäume warfen Schatten und plötzlich fröstelte sie und bekam an Armen und Beinen eine Gänsehaut. Ich bin einfach nur ein bisschen nervös , dachte Trine.
Sie ging weiter und kam zu einer Lichtung.
Ihr Mörder saß lässig zurückgelehnt auf einem Holzstoß, mit ausgestreckten Beinen und die Füße über Kreuz lächelte er ihr freundlich entgegen und sagte: „Hallo!“
Aber das war schon lange her. Sechs ganze Tage lagen dazwischen. Ein ganzes Leben.
Trines Leben.
10
Zu Orgelklängen zogen sie aus der Kirche aus. Spröde Töne, die in der Luft zitterten und zerbarsten.
Sechs Männer trugen den Sarg, drei auf jeder Seite. Zwei davon waren Trines ältere Brüder.
Direkt dahinter gingen ihre Eltern. Sie hielten einander beim Gehen an den Händen. Dann kamen ein paar schwarz gekleidete Frauen und Männer, die Nora noch nie gesehen hatte. Anschließend leerten sich die Bankreihen systematisch von vorn nach hinten und die Trauergäste reihten sich in die Schlange ein.
Bis zum offenen Grab waren es hundert Meter. Die Leute, die vor der Kirche gewartet hatten, wichen auseinander und öffneten eine Gasse. Graue Menschen säumten den Weg wie Wände.
Hier und da nickte jemand Nora zu. Sie konnte sich später jedoch an keinen von ihnen erinnern.
Ihr Atem ging schwer, das hörte sie selbst. Es war schwierig, sich den Schritten der anderen anzupassen. Sie waren langsam und hatten einen merkwürdigen Rhythmus.
Die Kirchenglocken begannen zu läuten. Dong. Dong .
Nora spürte die einzelnen Schläge bis ins Mark. Sie vibrierten in ihrem Körper. Verzweifelt wünschte sie sich, dass es endlich vorbei wäre – all die Blicke, die vielen Geräusche, das ganze Unwirkliche.
Als sie sich dem Grab näherten, wurden sie noch langsamer. Der Pfarrer stand mit der Bibel in den gefalteten Händen da und wartete darauf, dass Ruhe einkehrte. Sein Lächeln war angemessen traurig. Das regte Nora auf. Er war so … mitfühlend . Er hatte Trine doch gar nicht gekannt!
Die Leute machten Platz für Nora, Vilde und Benedicte. Erstaunt fanden die drei sich neben Trines Familie wieder, sie rochen die warme Erde vom offenen Grab und Trines Mutter lächelte sie an.
Der Pfarrer begann zu sprechen. Seine Stimme bekam einen schleppenden Tonfall, als er aus der Bibel vorlas. Es ging um Vergebung, darum, dass Verzeihen ein Akt der Stärke sei.
Nein , dachte Nora. Sie merkte, wie Vilde neben ihr die Schultern straffte. Sie schielte zu ihr hinüber. Benedicte wollte Vilde am Jackenärmel fassen. Vilde riss jedoch den Arm weg. Schnell schloss Nora die Augen. Bitte, bitte. Mach, dass das alles nur ein langer, schrecklicher Traum ist.
Der Pfarrer schlug die schwarze Bibel mit einer Hand zu. Amen.
Trines Eltern schalteten einen kleinen CD-Player ein, den sie mitgebracht hatten. Die Musik lief, während der Sarg ins Grab gelassen wurde. Von den Seiten rieselte Erde hinterher.
Nora kannte das Lied. Sie wusste noch genau, dass Trine es einmal als „Schmalzkram“ bezeichnet hatte.
Dann war der Sarg unten. Jemand nahm eine Handvoll Erde und warf sie ins Grab, dann noch einer und noch einer.
Zum ersten Mal an diesem Tag spürte Nora, wie hinter ihren Lidern die Tränen drückten. Nicht aus Trauer – diese Tränen hatte sie schon längst alle geweint. Nein, aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Es war so unsagbar bitter, hohl, oberflächlich und schmerzhaft zuzusehen, wie die Erde auf Trines Sarg landete, während ein Lied die Luft erfüllte, über das sie vor langer, langer Zeit nur gelacht und das sie mit einem
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