Dark Village - Niemand ist ohne Schuld
Kruse.
Klas Olofson widersprach seinem Kollegen nicht. Er fuhr im ersten Gang die Straße entlang, schaltete dann in den zweiten. Vor Wolffs Haus trat er auf die Kupplung und ließ den Wagen rollen.
„Da!“, rief Kruse aufgeregt. „Ich hab was gesehen!“
„Was denn?“
„Ich weiß nicht genau. Aber da war was.“
„Und Wolff? Was ist mit dem?“
„Halt an.“ Kruse machte noch im Fahren die Tür auf.
Klas Olofson fluchte und trat auf die Bremse.
„Mann, pass doch auf!“
„Ich werd nachschauen.“ Kruse lief zum Haus.
Die Haustür stand immer noch offen, aber es war niemand zu sehen. Kruse drehte sich zu Klas Olofson im Wagen um und rief: „Ich gehe rein!“
Klas Olofson schüttelte den Kopf. „Nein“, murmelte er. „Nicht allein, warte.“
Doch da war Kruse schon aus seinem Sichtfeld verschwunden. Es dauerte jedoch nicht mal eine Minute, bevor er wieder auftauchte. Er taumelte auf die Straße, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.
Klas Olofson kam aus dem Auto und lief dem kreidebleichen Kruse entgegen. „Was ist denn?“
Kruse antwortete nicht.
„Hast du Wolff gesehen?“
Kruse nickte.
„Hat er dich entdeckt?“
Kruse schüttelte den Kopf.
„Aber was ist denn passiert?“, fragte Klas Olofson aufgebracht. „Sag doch was, Mann.“
„Scheiße“, keuchte Kruse. „Verdammte Scheiße.“
10
BA-BAMM , schallt es über den Beton. Über dem Stausee klingt der Knall noch schärfer. Er fegt über die ruhige dunkelblaue Fläche.
Nicholas öffnet die Augen.
Der Pflegevater hängt vornübergebeugt über Katie, mit dem Rücken zu ihm. Auf seinem weißen Hemd breitet sich eine rote Rose aus. Die beiden Gestalten sind in einer grotesken Umarmung aneinandergefesselt, schrecklich nah am hüfthohen Zaun vor dem Abgrund.
Katies Gesicht ist vom Oberarm des Pflegevaters verdeckt. Nicholas kann es nur erahnen. Sie hat Blut am Kinn und der einen Wange. Mund und Augen sind weit aufgerissen.
Oh nein, nein, nein. Ich habe sie getroffen!
Es sieht so aus, als versuchte sie zu schreien, vielleicht vor Schmerz, aber es kommt nichts, und Nicholas denkt: Sie ist tot, sie ist tot! Das Gewicht des Pflegevaters drückt sie gegen den Zaun – und dann!
Dann kippen sie über die Kante. Ganz langsam. Zwei gliederlose Stoffpuppen in freiem Fall.
Es dauert ewig. Einer von beiden knallt auf dem Weg nach unten gegen die Staumauer.
Außer dem Rauschen der Bäume und dem fernen Tosen des Wassers dort unten in der Tiefe, wo es in den Fluss gedrückt wird, ist nichts zu hören.
Nicholas sieht nicht, wie die beiden im Wasser landen. Er hört es auch nicht. Der Revolver wiegt zentnerschwer. Die linke Hand gibt nach. Er hält die Waffe mit der rechten und irgendwann hängt der Abzug nur noch an seinem Zeigefinger.
Er dreht sich um und geht davon. Er weiß, dass er aussieht wie Katie so oft: eine kleine, zerstörte Silhouette vor dem gigantischen Staudamm.
Er denkt: Katie. Ich habe Katie umgebracht. Ich habe den einzigen Menschen umgebracht, der mich liebt . Und ein bisschen später, als er in das leere Haus kommt und vor lauter Leere die Wanduhr im Erdgeschoss bis oben in sein Bett ticken hört, da denkt er: Jetzt bin ich auch tot. Ich bin tot . In den Mundwinkeln schmeckt er salzige Tränen.
Nicholas ist acht Jahre alt. Katie ist gerade vierzehn geworden.
11
Nora saß mit hochgezogenen Beinen in einem tiefen Sessel im Wohnzimmer. Sie zappte durch die zwanzig Programme, die sie reinbekamen.
Ihr Handy klingelte. Sie schaute aufs Display. Ihre Mutter rief an.
„Ja?“
„Nora?“
„Nein“, giftete Nora. „Die heilige Mutter Gottes.“
„Nora. Lass den Quatsch.“ Ihre Mutter klang – vorsichtig ausgedrückt – gestresst.
„Also echt, Mama.“
„Was machst du?“, fragte ihre Mutter unnachgiebig.
„Ich bin zu Hause“, sagte Nora und spürte, dass sie ärgerlich wurde. „Was denkst du denn? Ich bin immerhin krank! Du erinnerst dich? Nora, deine kranke Tochter?“
Ihre Mutter überhörte die Spitze. „Nora. Du bleibst zu Hause. Du gehst nirgendwo hin.“
„Ich bin krank“, sagte Nora. „Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen. Ein bisschen Mitgefühl könntest du wohl …“
„Nora. Jetzt halt endlich mal die Klappe und hör mir zu!“
Nora schloss den Mund. So redete ihre Mutter normalerweise nicht mit ihr. Noch nie, nie in ihrem ganzen Leben hatte ihre Mutter gesagt, sie sollte die Klappe halten.
„Nora …“ Ihre Mutter holte tief Luft. „Sei so lieb, hör mir einfach
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