DARKNET
Ihm gegenüber stand eine weitere Bank.
Sobol nickte ihm grüßend zu. «Detective, ich bin sehr froh, dass Sie hier sind.»
Sebeck konnte kaum fassen, wie kraftvoll und lebenssprühend Sobol wirkte. In Khakihosen, mit einem frischen Buttondown-Hemd unter dem Anzugjackett und leicht verstrubbeltem Haar war er das Inbild des erfolgreichen jungen Mannes, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte.
«Bitte, setzen Sie sich zu mir.» Sobol deutete auf die freie Bank.
Sebeck wischte etwas Laub und Dreck weg und setzte sich.
«Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich anders aussehe, als ich aussehen werde … oder ausgesehen habe.» Er lehnte sich zurück. «Das liegt daran, dass ich mit dem Ende anfangen musste. Mit diesem Szenario hier. Aber ich habe keine Ahnung, was das für Sie bedeuten wird: das Hier-und-Jetzt. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass das, was für Sie der Anfang war, eigentlich mein Ende gewesen ist, und mein Ende Ihr Anfang.»
Sobol sah Sebeck direkt in die Augen. «Als mir bewusstwurde, was aus unserer Welt geworden war, dass wir nur noch Rädchen in unserer eigenen Maschinerie sind, beschloss ich, etwas Schreckliches zu tun … vielleicht eins der schrecklichsten Dinge, die je ein Mensch getan hat. Die Automatisierung unserer Welt zu nutzen, um die Saat eines neuen Systems zu streuen, ist unverantwortlich und skrupellos. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, wie wir Menschen uns je ändern würden. Oder ändern könnten. Doch jetzt, da viele Menschen gemeinsam diese Quest vollbracht haben und Sie hier sind, um mir Ihren Erfolg zu melden, ist die Frage, die ich Ihnen stellen muss, folgende: War ich im Recht oder im Unrecht, Sergeant? Soll ich den Daemon
zerstören
? Soll ich alles, was ich getan habe, rückgängig machen? Ja oder nein?»
Sebeck fühlte, wie der Schock von seinem Körper Besitz ergriff. Er war sprachlos.
«
Sie
müssen es jetzt doch wissen, Sergeant. Soll dem Daemon ein Ende gemacht werden? Ja oder nein? Ich warte auf Ihre Antwort.»
Sebeck holte tief Luft und blickte zum Tor zurück. Er sah niemanden. Da waren nur er und dieses längst verstorbene wahnsinnig-hellsichtige Genie. Er saß da und dachte an seine ganze lange Reise, von dem Moment, als er den Mordfall auf Sobols Anwesen übernommen hatte, bis jetzt. Es waren Jahre. Er dachte an seine Frau Laura und seinen Sohn Chris, die er darüber verloren hatte. An seine Kollegen und Freunde, die tot waren oder für die er tot war. Er dachte an all die Menschen, die sich ein neues Leben im Daemon-Darknet aufbauten, und an all diejenigen, die bei der Geburt dieses Netzwerks – und seiner Verteidigung – ihr Leben gelassen hatten. Eine Prozession von Gesichtern zog an ihm vorüber. Was hieß denn schon «Gesellschaft»? Dass eine Gruppe die Regeln bestimmte. Im Darknet war das wenigstens eine große Gruppe statt einer kleinen.
Sobol hatte geduldig gewartet, doch als Sebeck ihn wieder ansah, wiederholte der Avatar seine Frage. «Soll ich den Daemon zerstören, Sergeant?»
Sebeck atmete tief durch. Dann schüttelte er den Kopf. «Nein.»
«Bitte bestätigen Sie Ihre Antwort. Soll ich den Daemon zerstören? Ja oder nein?»
«Nein.»
Das Bild flackerte kurz, und Sobol wirkte auf kontrollierte Art erleichtert. Er sah Sebeck wieder in die Augen. «Sie ahnen gar nicht, wie ich mir diesen Ausgang erträumte. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie es ausgehen kann. Wenn Sie wirklich da sind, Sergeant – viel Glück. Ihnen und überhaupt allen. Und fürchten Sie sich nicht vor Veränderung. Das ist das Einzige, was uns retten kann.»
Sobol stand auf, nickte noch einmal zum Abschied und wanderte davon. Kurz darauf löste er sich in Luft auf.
Sebeck blieb ohne Zeitgefühl in dem schattigen Grün sitzen und dachte über das nach, was gerade geschehen war. Bis schließlich seine HUD -Brille eine neue Nachricht anzeigte. Er wagte es nicht, seinen Augen zu trauen. Der Netzwerkname – er starrte darauf: Chris_Sebeck.
Er gab sich einen Ruck, öffnete die Nachricht und begann, langsam zu lesen …
Dad, ich habe es so eingerichtet, dass das Öffnen dieser Nachricht getriggert wird, wenn du dafür bereit bist. Ich kenne die Wahrheit und kann es gar nicht erwarten, dich zu sehen. Dein Sohn Chris.
40 Exit-Strategie
Über hundert Jahre hatte die Sky Ranch gebraucht, um sich aus dem Stammsitz einer reichen Familie in den massiv gesicherten Manager-Retreat- und Endzeitbunker-Komplex zu verwandeln, der sie jetzt
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