Darling Jim
standzuhalten. Die Heizung war wieder einmal kaputt. Er fuhr mit den Fingern über die ersten Sätze von Fiona Walshs Aufzeichnungen und begann zu lesen. Schon jetzt war er so gebannt, dass er wusste, er würde sich erst wieder bewegen, wenn er fertig gelesen hatte.
Auf der ersten Seite stand:
»Lieber unbekannter guter Freund. Bitte hör mir zu. Ich bin noch hier, aber meine Zeit ist knapp. Ich vermache dir meine Geschichte und mein Morgen, denn wir werden bald tot sein.
Wir werden in diesem Haus sterben, weil wir einen Mann namens Jim liebten, ohne seine wahre Natur zu kennen. Pass gut auf, ich werde dir erzählen, wie alles geschah... «
TEIL EINS FIONAS TAGEBUCH
III.
Endlich ist es ruhig da unten.
Ich höre meine herzallerliebste Tante schon seit mindestens einer Stunde nicht mehr wüten. Das bedeutet, ich habe ein bisschen Zeit, um mich warm zu schreiben. Bevor sie wieder anfängt, an die Tür zu hämmern und mich als Mörderin zu beschimpfen, will ich mich kurz vorstellen.
Ich bin Fiona, Fiona Nora Ann Walsh, und habe dieses gottverdammte Haus seit fast drei Monaten nicht mehr verlassen. Ich sehe grauenhaft aus. Was ich am Leib trage, war irgendwann einmal ein Kleid aus thailändischer Seide. Zu Hause bezeichneten mich die Leute als hübsch, aber erst, nachdem sie meine Schwestern mit deutlich größerer Überzeugung hübsch genannt hatten. Spar dir deine Schuldgefühle, okay? Wenn du dieses Tagebuch gefunden hast, kannst du mich nicht mehr retten. Aber du kannst dich zumindest an mich erinnern. Versprich mir, dass du nicht vergessen wirst, wer ich war und wie ich hier hergelangt bin. Denn ich kann die Vorstellung nicht ertragen, dass man mich in einem Leichensack aus dem Haus schafft, ohne dass jemand die ganze Wahrheit erfährt.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Dein Mitleid will ich nicht. Ich kann schon auf mich aufpassen, sogar jetzt noch. Vor einem Monat habe ich kurz vor der abendlichen Zimmerkontrolle einen Schraubenzieher und ein paar Haarnadeln in einer Schublade gefunden, die sie versehentlich nicht abgeschlossen hatte. Ich habe alles in meiner Matratze versteckt. In den vergangenen Nächten habe ich, nachdem ich nach Roisin gesehen habe, den Schraubenzieher an dem rauen Mauervorsprung neben dem Fenster abgeschliffen. Er ist schon spitz genug, um drei teuflische Tanten zu durchlöchern. Und ich muss das Ding nur in eine rammen. Aber ich muss warten. Hör genau zu. Denn wenn der Augenblick gekommen ist, werde ich nur eine Chance haben. Manchmal höre ich ein Scharren aus ihrem Zimmer unten, als zerre sie etwas über die Dielen. Ich wette, sie hat etwas Schweres aufgetrieben, mit dem sie meine Zimmertür einschlagen will. Vielleicht eine Keilhacke oder eine Schaufel. Aber kann sie das Ding überhaupt noch hochheben? Würde mich wundern. Sie sah so verschrumpelt aus wie die arme Rosie, als ich sie vor zwei Tagen das letzte Mal aus dem Fenster meines Zimmers gesehen habe.
Mir ist inzwischen die ganze Zeit schwindlig, Tag und Nacht.
Und das kommt nicht nur davon, dass ich nur von Kartoffeln und Brot lebe. Ein Gefühl, als ob meine Eingeweide beiseitegeschoben werden oder in mir vertrocknen und nur ein großes, leeres Loch zurücklassen. Ich weiß nicht, ob ich das richtig beschrieben habe, aber ich weiß genau, dass sie dabei ihre Finger im Spiel hat. Ich blute seit kurzem, wenn ich pinkle, und Roisin auch. Nachts wimmert meine Rosie wie ein krankes Tier und schreit nach unserer Mutter.
Aus dem Keller haben wir schon seit einiger Zeit nichts mehr gehört, und ich habe Angst, dass nur wir beide noch übrig sind, hier im zweiten Stock. Ich würde diesem Miststück ohne Weiteres zutrauen, dass sie den Keller mit ihrem Gartenschlauch unter Wasser gesetzt hat. Sie würde alles tun, um zu verhindern, dass jemand uns hilft, hier lebendig rauszukommen. Aber das Wasser hätten wir wahrscheinlich gehört. Und die Nachbarn auch. Und den Geräuschen nach zu urteilen lassen auch Tante Moiras Kräfte langsam nach. Inzwischen ist es nicht mehr eine Frage des Glaubens, sondern der Willenskraft. Der Ausdauer. Ich bin mehr Halbmarathone gelaufen als diese dreckige Hure. Soll sie doch ihren Jesus aus Plastik verehren. Was mir Kraft gibt, ist mein Hass auf Moira und meine Liebe für die kleine Rosie. Und das ist mehr, als diese elende Frau aus ihren Rosenkränzen ziehen kann, würde ich sagen.
Oft war Hilfe so nah, dass ich sie riechen konnte. Aber bis ins Haus hat sie es nie geschafft.
Vor kurzem habe ich
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