Darling Jim
Klang das Manna in der Wüste. Ich ging zu dem Kasten, drehte vorsichtig am Schaltknopf, und das grüne Licht erlosch.
Ich könnte dich jetzt stundenlang mit der Obsession meiner Schwester für weit entfernte Stimmen langweilen, die Menschen gehörten, die sie noch nie gesehen hatte. Aber ich mache es kurz:
Wir beide träumten von unbekannten Ufern, wenn auch nicht auf dieselbe Art. Ich begnügte mich damit, eine Landkarte oder ein Bild aufzuhängen, aber Rosie musste mit der Ferne in Verbindung treten. Zu ihrem siebten Geburtstag schenkten ihr meine Eltern ihr erstes Transistorradio. Sie benutzte es so oft, dass nach einem Jahr die Plastikabdeckung geschmolzen war. Bald gab sie ihr Geld nur noch für zwei Dinge aus: Wimperntusche, mit der sie aussah wie ein Waschbär-Punk, und Amateurfunk. Sie verabscheute E-Mails und nannte es ein »Spielzeug für Kinder, die zu faul zum Reden sind«. Und damit hatte sie vermutlich recht. Die Stimme meiner Schwester war schon immer bezaubernd gewesen.
Dieses Ungetüm hatte sie von einem Verehrer bekommen. Von einem ihrer unzähligen Verehrer. Männer hingen an ihr wie Kletten, und nicht nur, weil sie sie wie den letzten Dreck behandelte, was man nicht oft genug tun kann, wenn man will, dass sie bleiben. Nein, sie wurden durch das - übrigens absolut wahre Gerücht - angelockt, dass meine Schwester noch nie mit einem Mann geschlafen hatte. Außerdem konnte sie jeden Typen an die Wand diskutieren, selbst wenn sie sturzbetrunken war, und diese Kombination war für Männer einfach tödlich. Ach ja, wunderschön war sie auch noch. Ich versetzte ihrem Fuß einen Tritt.
Sie reagierte mit einem Grunzen. »Aua! Stehst du jetzt auf Folter, du als Lehrerin verkleidete Domina?«
»Steh auf! Wenn du glaubst, ich esse heute Abend alleine verkochtes Fleisch und fade Kartoffeln, dann träumst du wohl noch.«
Langsam befreiten sich zwei Beine von den Decken, und Rosie setzte sich vorsichtig auf. Sie sah aus wie eine japanische Porzellanpuppe, die einer Bande Maskenbildner in die Hände gefallen war. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen, und auf ihren Wangen prangten kleine Blümchen aus Mascara, das sich mit ihrem Make-up vermischt hatte. Ihre Lippen kräuselten sich zu dem schuldbewussten Lächeln, von dem jeder Junge, Mann und Greis von hier bis Skibbereen seinen Freunden vorschwärmte, auch wenn Rosie auf ihr bewunderndes Grinsen noch nicht einmal mit einem Blick reagierte. Ein Lächeln, das Königreiche zu Fall bringen konnte. Rosie hatte davon allerdings nicht die geringste Ahnung.
Im Moment war sie damit zufrieden, von der Stütze zu leben und jeden Abend letzter Gast in McSorleys Bar zu sein. Dort trank sie die Versager unter den Tisch, die ihr, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Pint nach dem anderen spendierten. Roisin war die mit Abstand intelligenteste Person unserer gesamten Familie und war letztes Jahr im University College Cork angenommen worden, wo sie auf dem besten Weg zu einem Abschluss mit Summa cum laude war, ohne dabei ihr aktives Sozialleben zu vernachlässigen.
Jedenfalls, bis ihr ein Hiwi aus ihrem Seminar über Thermalphysik eines schönen Tages im Damenklo auflauerte und sie dazu zwingen wollte, ihm einen zu blasen. Drei ausgewachsene Männer waren nötig, um Rosie davon abzuhalten, ihn umzubringen. Sie hatte ihm innerhalb einer Minute das Schlüsselbein und das Wangenbein gebrochen und einen Hoden zerquetscht. Das alles mit dem Mop, den die Putzfrau im Klo vergessen hatte. Die Universitätsleitung wollte sie nicht von der Uni werfen, aber auch der armselige kleine Typ, der versucht hatte, sich an ihr zu vergehen, behielt seinen Job. Also sagte Rosie Auf Wiedersehen und Danke sehr, nahm den nächsten Bus nach Hause und kehrte zu ihren unsichtbaren Freunden im Äther zurück. Und so lebte sie nun schon seit mehr als sechs Monaten.
»Hast du mein Frühstück vergessen?«, fragte die Kreatur in dem winzigen Slip mit Tigerprint. Ich reichte ihr zwei mit Honig bestrichene Scheiben Brot, die ich gerade in der schmutzigen Kochecke fabriziert hatte, und sah ihr dabei zu, wie sie die Dinger verschlang. Ihre Beine baumelten über den Bettrand, und sie sah aus wie das Mädchen, das sie immer noch war. Als sie schließlich aufstand und in einer Kommode nach sauberen Sachen suchte, die nicht schwarz waren, verbot ich mir jeden Gedanken an den Charmeur auf dem Motorrad. Ich schaffte es fast. Rosie zwängte sich schließlich in die engsten Jeans der Welt und komplettierte
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