Darling Jim
schwedische Raser.
Der Erlöser war fürs Abendessen herausgeputzt worden.
Ich hatte sein von einem Heiligenschein umstrahltes Gesicht schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Aber als Rosie und ich Moiras zweistöckiges Haus an der Straße neben der Bucht betraten, war er wieder da. Und er glänzte, als wäre er mit Perwoll gewaschen und danach liebevoll von Hand poliert worden. Das letzte Mal hatte ich ihn am Abend vor dem Tod unserer Eltern in einem Stück gesehen. Ein Kunde hatte ihn meiner Mutter und meinem Vater als Witz geschenkt, und sie brachten es nicht übers Herz, ihn wegzuwerfen. Er bestand aus blauem und gelbem Plastik und hatte die Arme weit ausgebreitet. Der Bart war ursprünglich braun gefärbt gewesen, aber die Farbe war abgeblättert und gab nun den Blick auf seine Kraft und Herrlichkeit frei, in diesem Fall eine 40-Watt-Birne. Der Plastikjesus war bei der Explosion auf die Straße geschleudert worden, und Tante Moira hatte ihn aus dem Müll gefischt. Sie putzte ihn und sagte uns Mädchen, dies sei »ein Zeichen des Allmächtigen«. Seitdem bewahrte sie ihn in einer Schachtel unter dem Bett auf und nahm ihn hin und wieder heraus, weil er sie an ihre einzige Schwester erinnerte. An diesem Punkt zogen alle anderen religiösen Fanatiker der Stadt ihren Hut und überließen ihr kampflos die Bühne.
Roisin und ich tauschten besorgte Blicke, als wir uns im Haus umsahen. Moira hatte in letzter Zeit ziemlich abgebaut. Ein Bild von Eamon de Valera, dem alten Schwerenöter, hing in leuchtendem Schwarz-Weiß neben der Garderobe. Alle Omis und Tanten stehen auf den Typ, keine Ahnung, warum. Hätte sie lieber Bill Clinton aufgehängt, der wusste wenigstens, wie man einen draufmacht. Ein Rosenkranz hing wie eine Kette über dem Gesicht des ehemaligen Premierministers. Das hätte ihm gefallen.
»Wie geht's, Tante Moira?«, fragte Rosie und lächelte pflichtbewusst, wie ein Mädchen, das niemals so viel trinken würde, dass ihre ältere Schwester sie um drei Uhr morgens ins Krankenhaus fahren musste, damit ihr der Magen ausgepumpt werden konnte. Wie es vor drei Tagen geschehen war.
»Ihr seid spät dran, Schätzchen«, sagte Moira, lächelte aber und nahm uns die Jacken ab. Im ganzen Haus roch es nach verkochtem Irgendwas. Dem Ort, an dem wir Schwestern aufgewachsen waren, war anzusehen, dass Moira sich nicht mehr um sich selbst kümmerte und allmählich immer verrückter wurde. Die Tapete, die wir als Kinder mit angebracht hatten, löste sich vom unteren Ende der Wände, als versuchte das Haus, sich zu häuten. Der offene Kamin in der Küche war mit einem Stuhl blockiert, denn seit kurzem hatte unsere Tante panische Angst vor Haushaltsbränden. »Ich werde in Flammen aufgehen wie eure Mutter, das weiß ich ganz genau«, hatte sie bei unserem letzten Besuch gesagt, und ich hatte mir jeden Kommentar verkniffen und mich bald verabschiedet. Früher hatte sie dafür gesorgt, dass sich ihre Gäste wohlfühlten, aber nun sprach sie nur mit ihnen, wenn sie bezahlten und sie ihnen Landkarten der Gegend aushändigte. Aber es kamen auch nur noch selten Gäste, und das konnte ich durchaus verstehen.
Es war nicht ihre Schuld. Es war Harolds Schuld.
Verrat hat viele Formen, aber besonders grausam ist er, wenn das Opfer eine zweiundvierzig Jahre alte Frau ist, die noch gut ein paar Jahre lang über ihr Alter lügen könnte. Manchmal roch ich immer noch sein billiges Aftershave im Flur des zweiten Stocks. Harold war noch kein halbes Jahr weg, aber meine Tante trudelte geradewegs auf den Abgrund zu. Sie duschte nicht mehr jeden Tag und wartete noch immer neben dem stummen Telefon auf einen Anruf, der niemals erfolgen würde. Die Mars-Riegel, die sie heimlich in sich hineinstopfte, ließen ihre Taille, die früher so zierlich gewesen war, dass sich kaum ein Mann traute, sie zu umarmen, aufgehen wie einen Hefeteig.
Vor nicht einmal drei Jahren war Moira eine stattliche Frau gewesen, die von gleichaltrigen Frauen offen beneidet und von Männern jedes Alters heimlich angeschmachtet wurde. Harold, ein Tourist, der - wenn ich mich recht erinnere - angeblich aus einem Ort namens Rensselacr nördlich von New York stammte, war Gast in Zimmer Nummer fünf. Er bezahlte im Voraus und sagte, er wolle ein bisschen angeln. Er hatte eine hohe Stirn, typisch amerikanische Pferdezähne und kündigte sich immer durch sein dröhnendes Lachen an. Schon bald galt er in der Stadt als gar nicht so übel für einen Yankee. Einmal zwinkerte er mir
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