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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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Namen kennt. Manche schlechter, manche besser. Heute wurde ich gebeten, euch alle in der uralten Tradition der seanchai mit einer Geschichte von Liebe, Leid und Gefahr zu erfreuen.«
    Der letzte fahrende Sänger, der in die Stadt gekommen war, zählte mindestens sechzig Lenze, und sein Kostüm bestand aus einem räudigen Bart. Das Publikum hatte sich auf zwei Säufer beschränkt. Das hier war eindeutig besser.
    Aus der alkoholisierten Menge stiegen begeisterte Rufe auf: »Erzähl, Junge!«, schrie ein Trawlerkapitän, der noch seinen Arbeitskittel trug. »Wuu-huu«, kreischte ein englisches Mädchen, zog ihr T-Shirt hoch und bekam deutlich mehr Applaus als der Fischer.
    Und ich? Ich starrte Jim mauloffen und wie gelähmt an. Ich konnte nicht anders.
    »Wir seanchai bilden eine uralte Bruderschaft der Erzähler, aber von unserer Zunft sind nur noch wenige übrig. Deshalb leben wir von der Güte unserer Zuhörer«, fuhr er fort, richtete seine Bernsteinaugen auf Frauen und Männer und bekam keinen einzigen desinteressierten Blick zurück. Ohne die Stimme zu erheben, brachte er alle dazu, ihm zuzuhören. »Es ist eine lange Geschichte, und heute kann ich euch nur das erste Kapitel bieten. Ich werde sie in anderen Städten weitererzählen. Aber wenn ihr nach dem heutigen Abend noch nicht genug habt und mehr hören wollt, dann fragt meinen Freund da drüben. Er weiß, wo es weitergehen wird.« Jim deutete zur Bar, wo ein asiatisch aussehender Mann mit einer Schlägervisage mit einem Glas Sprudel stand, sein Gesicht halb hinter dem aufgestellten Kragen seiner Cowboyjacke verborgen.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Aoife, als sie mein erschlafftes Gesicht sah.
    »Ihr geht's gut«, sagte Roisin und tätschelte mir mit übertriebener schwesterlicher Zuneigung die Hand. »Sie hat gerade das bekommen, weshalb sie hier ist, glaube ich.«
    Ich war zu gebannt von Jim, um ihr eine zu scheuern. Und ich war nicht die Einzige. Bronagh, die übereifrige Anfängerin, hatte rote Flecken auf den Wangen. Jedes Mal, wenn wir sie in ihrer brandneuen Garda-Uniform sahen, fiel es uns schwerer, uns vorzustellen, dass wir schon mit ihr gespielt hatten, bevor wir »Ach, sei still, Bronagh, du redest nur Blech« sagen konnten. Sie hatte uns auf dem Spielplatz schon immer herumkommandiert, deshalb war ich eigentlich nicht überrascht, als sie plötzlich einen Schreibtisch in der örtlichen Polizeiwache besetzte. Sie kaute an ihren Fingernägeln und beobachtete, wie Jim sich im Rampenlicht sonnte. Sogar Mary Catherine Cremins Mutter, die ein Lebendgewicht von über hundert Kilo hatte, stopfte nicht länger Fritten mit geschmolzenem Käse in sich hinein, sondern starrte auf die von einem einzelnen Scheinwerfer beleuchtete Gestalt.
    Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, aber ich werde mich immer an die ehrfürchtige Stille erinnern, die Jims Geschichte an diesem Abend vorausging. Denn in gewisser Hinsicht war dies der letzte friedliche Augenblick, den wir drei Schwestern zusammen erleben sollten. Das einzige Geräusch war das Summen des Aquariums neben der Tür.

    Jim erhob sich von seinem Hocker, zog die Jacke aus und starrte in die rauchgeschwängerte Luft. Er hob die Hände, und mit einer Geste, die einem Zauberer geziemt hätte, beugte er sich in Richtung seiner Zuhörer.
    »Schließt eure Augen, und stellt euch eine Familie vor, die dem Bösen anheim fiel«, begann er.

VIII.
    »Nicht weit von diesem Ort, an dem wir uns heute versammelt haben, stand einst eine stolze Burg, von fünf Türmen bewacht«, deklamierte Jim in einem gleichmäßigen Tonfall, der bis in die hintersten Winkel des Raumes drang.
    »Niemand weiß, wann sie erbaut wurde, denn als sie schließlich fiel, blieb nicht ein einziger Stein erhalten, der ihre Geschichte hätte bezeugen könnte. Vielleicht erhob sie sich auf der anderen Seite des Parkplatzes da draußen oder hinter den weiten Feldern, die sich östlich der Stadt erstrecken. Die Alten, die mir ihre Geheimnisse anvertrauten, berichteten nur, dass sie jahrhundertelang unbezwungen blieb. Weder fremde Eroberer noch Verräter innerhalb der moosbedeckten Granitmauern brachten sie zu Fall. Das Burgtor war aus schweren schwarzen Eichenbrettern gezimmert, als habe die Mauer einen stets geöffneten, gierigen Schlund, um verirrte Wanderer zu verschlingen. Wenn das Tor aufging, erschallten Trompetenstöße, die Mensch und Tier dazu anhielten, schleunigst das Weite zu suchen. Denn dies bedeutete, dass die Männer des Clans

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