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Darling Jim

Darling Jim

Titel: Darling Jim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mork
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selbstverständlich.« Sie legte noch mehr Wärme in ihre Augen und tat so, als wäre ihr nichts Ungewöhnliches aufgefallen. »Möchtest du morgen frühstücken?«
    »Sehr gerne. Ist halb neun in Ordnung?«
    »Rührei mit Lachs um halb neun, Herzchen«, bestätigte Mrs.
    Crimmins in dem singenden Tonfall, der ihre professionelle Distanz unterstreichen sollte, und verließ eilig das Zimmer. Lautlos schloss sie die Tür hinter sich.
    Niall blieb noch einen Moment lang regungslos sitzen. Er kam sich vor, als habe ihn seine Mutter gerade mit einem Porno in der freien Hand erwischt. Er schob das Tagebuch zur Seite und betrachtete seine unvollendete Skizze. Er hatte das Pferd wieder einmal von hinten aufgezäumt. Nicht nur der Wolf war ihm auch diesmal misslungen. Wenn er sich nicht einmal richtig vorstellen konnte, welcher Beute das Raubtier überhaupt hinterher jagte, wie sollte er dann jemals dessen Verlangen realistisch darstellen? Verlorene Liebesmüh. Niall erhob sich, schloss die Tür ab und setzte sich wieder. Mrs. Crimmins hielt ihn jetzt wahrscheinlich für einen durchgeknallten und leicht perversen Künstler, aber daranließ sich nun auch nichts mehr ändern. Er beugte sich über das Blatt und versuchte sich vorzustellen, wie sich Jims Hand um seinen eigenen Hals schloss und das Leben aus ihm herauspresste. Dann dachte er an Sarah McDonnells Ohrring und ihre leblosen Beine. An Tomos zerstörtes Gesicht. »Wie geht's, Ladys?«, hatte der Geschichtenerzähler mit einem Grinsen gefragt, bevor er an die Arbeit ging. Ob er mit Mrs. Holland überhaupt geflirtet hatte, falls er ihr Mörder gewesen war?
    Etwas begann sich zu bewegen.
    Eine weibliche Gestalt erschien unter Nialls Stift, direkt vor Jims ausgestreckten Armen.
    Zuerst die beim Rennen zusammengezogenen Schultern, die in einen schlanken Rücken, Hüften und Beine mündeten, die sich heftig wehrten, um dem Griff des Verfolgers zu entkommen. Warum fasziniert mich das Ganze so, fragte sich Niall, aber er spürte, dass die Antwort nicht im rationalen Teil seines Gehirns lag, als er ein hübsches Gesicht und weit geöffnete blaue Augen unter seinem Stift erblickte. Jetzt wirkte die Gesamtkomposition stimmiger, denn Jäger und Beute vollführten gemeinsam einen energiegeladenen Totentanz.
    Aber obwohl der Wolf dieses Mal Menschengestalt hatte, stimmten die Augen einfach nicht. Niall radierte sie noch einmal aus und versuchte, ihnen einen hungrigen, verengten Ausdruck zu verleihen, der zu der mörderischen Pose passte. Er schattierte die Wangen dunkel, um die Augen stärker hervorzuheben. Scheiße! Jetzt wirkte Jim nicht mehr gefährlich, sondern nur hundemüde. Angenervt warf Niall den Stift zur Seite. Wenn er das wahre Böse zu Papier bringen wollte, musste er ihm vielleicht zuerst leibhaftig begegnen.
    Niall hatte erst einmal eine Leiche gesehen, als der kleine Danny Egan von gegenüber ein Wettrennen gegen einen Bus verloren hatte. Sie waren beide ungefähr elf Jahre alt gewesen, und Danny war gerade aus Nialls Haus geschossen, wo sie ihre Hurling-Schläger in Profimanier mit Klebeband umwickelt hatten. Nialls Mum rief ihm noch nach, er solle nicht über die Straße rennen, aber das dumpfe Klatschen übertönte die zweite Hälfte ihres Satzes. Aus dem Vorgarten sah Niall deutlich die nackten Beine unter dem Fahrgestell hervorragen, der eine Schuh noch immer nicht zugeschnürt. Es sah aus, als gehörten sie einer Wachspuppe.
    An jenem Abend legte sich Niall mit Papier und Bleistift ins Bett und schaltete unter der Decke die Taschenlampe ein. Er kam sich vor wie ein Monster. Die Erwachsenen hatten den ganzen Tag von »der Tragödie« und dem »jungen, ausgelöschten Leben« gesprochen, aber diese Worte hatten keine Trauer in ihm ausgelöst. Ihn erfüllte nur ein dumpfes, schmerzendes Gefühl von Unwirklichkeit.
    Dann hatte er den Stift angesetzt und gesehen, wie etwas geschah, das er immer noch nicht richtig verstand. Aus einem Paar Schuhe wuchsen zwei echte Beine, die am leblosen Körper eines echten toten Jungen hingen. In Niall stiegen Angst und Schmerz auf. Sein bester Freund Danny war tot! Als er fertig war und auf dem Bild auch der Bus über Dannys nicht sichtbarem Oberkörper und ein paar Polizisten zu sehen waren, schluchzte Niall so heftig, dass seine Eltern ins Zimmer kamen, um nach ihm zu sehen.
    Stift und Papier waren zu magischen Gegenständen geworden. Und seitdem war jedes reale Ereignis für Niall nur ein Echo der wirklichen Welt gewesen, die für

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