Darling Jim
aus dem Fenster.
Denn obwohl ihr Bauch ihr sagte, dass der Junge in Ordnung war, galt das bestimmt nicht für die Geister, die ihm folgten.
Niall hatte gerade erst an dem kleinen Schreibtisch Platz genommen, als sich Jim in seinem Inneren zu regen begann.
Er nahm die Plastikmappe, die sein wertvolles Zeichenpapier enthielt, und zog ein einzelnes Blatt heraus. Fionas Tagebuch lag bereits offen und eselsohrig auf dem Bett neben ihm. Er hatte die Seiten markiert, auf denen er ein Wort nicht entziffern konnte oder er meinte einen Hinweis darauf gefunden zu haben, wie die Geschichte weitergehen würde. Beispielsweise gab es an einigen Stellen Kreuze und Haken, aber sie schienen keinen Zusammenhang zu haben. Zumindest hatte er ihn bisher noch nicht entdeckt.
Auf einer Doppelseite hatte Fiona offenbar eine grobe Landkarte der Gegend gezeichnet. Einige Städte waren mit einem »X« markiert, andere trugen keine Kennzeichnung. Castletownbere hatte zwei Kreuze, Drimoleague verdiente nur eines. Nialls Vermutung war, dass Sarah und Tomo im ersten Ort gestorben waren und nur die Witwe Holland im Letzteren. Adrigole, Eyeries und Bantry waren unberührt geblieben und beinahe jede andere Stadt in der Gegend mit einem Fragezeichen markiert, als habe sich Fiona gefragt, ob der wandernde Tod auf dem Motorrad auch dort Schafen, Ziegen, Schuljungen und holden Jungfern aus ferner Vergangenheit nachgestellt hatte. Obwohl Niall selbst mit einer sehr beachtlichen Phantasie gesegnet war, runzelte er bei diesem Gedanken die Stirn. Alles war ein bisschen zu perfekt. Aber so gerne er auch daran glauben wollte, dass Fiona im Mordhaus ihrer Tante beim Aufschreiben der Ereignisse langsam den Verstand verloren hatte, blieb die Tatsache bestehen, dass hier wirklich ein Wolf sein Unwesen getrieben hatte. Oder etwa nicht?
Jims Geschichte über den Hammer, den er in Tomos Gesicht getrieben hatte, war keine Prahlerei gewesen, das ahnte Niall. Er sah sich Fionas Landkarte seiner Liebes- und Mordnächte noch einmal genauer an, und plötzlich wirkte ihre Geschichte wieder ganz logisch. Niall spürte die Gegenwart des seanchai so deutlich, als stünde er direkt vor dem Fenster und hauche seinen heißen Atem auf die Scheibe. Würde als Nächstes sein eigener Name auf dem Glas erscheinen?
Wieder regte sich das Gefühl in ihm, das ihn in jener Nacht im Postamt vom Kopf bis zu den Zehen durchströmt hatte. Die Bilder in seinem Kopf waren so intensiv und grell, dass sie ihn beinahe schmerzten. Sie klopften an seine Schädeldecke und wollten unbedingt ans Tageslicht gelangen.
Diesmal wuchs beinahe ohne Nialls Zutun eine Hand auf der leeren Seite.
Bald saß sie am Ende eines in Leder gehüllten Armes, der einem Mann mit halb geöffnetem Mund gehörte, der gerade zum Sprung ansetzte. Niall hatte die Finger länger gezeichnet, als anatomisch korrekt war, aber sie passten zu den schlanken, zum Sprung gebeugten Beinen, deren Muskeln durch den zerrissenen Jeansstoff sichtbar wurden. Seltsamerweise wartete Niall bis zum Schluss damit, Jim Augen zu geben, aber als er sie gezeichnet hatte, fand er sie stumpf und leblos. Er radierte sie aus und versuchte es mit einem paar echten Wolfsaugen, aber das Ergebnis war noch schlechter und wirkte wie eine stümperhafte japanische Manga-Zeichnung. Niall setzte gerade den abgekauten Kohlestift aufs Papier, um Jims Beute zu zeichnen, als sich hinter ihm die Tür ohne Vorwarnung öffnete.
»Ich will ja schließlich nicht, dass du dir eine Lungenentzün ... «
Mrs. Crimmins brach mitten im Satz ab, und Niall warf hastig das Tagebuch auf die halb fertige Zeichnung, allerdings eine Zehntel Sekunde zu spät. Seine Gastgeberin hatte sie bereits erblickt, und er sah einen Ausdruck in ihren Augen, den ihr strahlendes Lächeln nicht ganz übertünchen konnte. Sie hatte einen kurzen Blick auf die Gedanken erhascht, die in seinem Kopf herumschwammen. Und dazu hatte niemand das Recht, der nicht gerade Todd Sayles hieß und ein berühmter Comiczeichner war.
»Herzlichen Dank, Mrs. Crimmins«, sagte Niall mit einem Blick auf die sauber gefalteten Kleidungsstücke, die sie bei sich hatte. »Das ist wirklich nett von Ihnen.«
Mrs. Crimmins legte eine Männerjeans, einen Pullover, eine Jacke und ein kaum benutztes Paar Stiefel auf das Fußende des Bettes und wischte sich ihre vollkommen trockenen Hände an ihrer Küchenschürze ab, als wolle sie die Sachen endgültig von sich abstreifen. »Keine Ursache, junger Mann. Das ist doch
Weitere Kostenlose Bücher