Darling Jim
ihn ausschließlich im zweidimensionalen Raum existierte.
Er stand auf und ging ans Fenster, vor dem die Sonne inzwischen hoch über der Insel Beara stand und die Gegend wieder in eine friedliche Touristenfalle verwandelte. Nirgendwo lauerten Wölfe, nicht einmal solche in Bluejeans. Hier würde ihm nichts Gefährliches begegnen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen herzukommen. Er legte sich aufs Bett, nur um die Matratze zu testen. Morgen würde er damit anfangen, der Fährte des Wolfes zu folgen. Am besten begann er in der Schule. Vielleicht hatte Fiona ja noch etwas hinterlassen, das sie in ihrem Tagebuch gar nicht berücksichtigen konnte.
Bald schlief er tief und fest. Und in seinen Träumen öffnete sich das schwarze Tor und schickte eine Armee berittener Soldaten in die Welt hinaus. Und jeder Reiter trug als einzige Waffe das tödlichste Lächeln der Welt.
»Wer sind Sie?«
Die Stimme war so klar wie eine kalte Dusche und ungefähr genauso angenehm. Niall stand in einem leeren Klassenzimmer in der Sacred-Heart-Grundschule, beugte sich über das achtzehnte Lehrerpult, das er in der letzten Viertelstunde durchsucht hatte, und wollte gerade nach einem alten Buch mit dem Titel Die verlorenen Schätze der Pharaonen greifen, als ihm bewusst wurde, dass er nicht allein war. Er hob den Kopf und blickte in ein Augenpaar, das von ihm nur eines wollte: Antworten. Und zwar sofort.
»Sind Sie dieser Mr. Breen?«, fragte das kleine Mädchen, das kerzengerade vor ihm stand wie ein Funkenmariechen. »Dann wären Sie diesen Monat schon unser dritter Vertretungslehrer.« Niall betrachtete die auf Hochglanz polierten Lederschuhe und die Finger, die das Mäppchen umklammerten, und wusste sofort, wer seine Inquisitorin war.
»Du bist bestimmt Mary Catherine«, sagte er und versuchte, nicht zu grinsen, als sei er ein Fremder, der ihr gleich Süßigkeiten anbieten würde.
Mary Catherine rückte ihre Haarspange zurecht und beäugte ihn misstrauisch. »Vielleicht«, sagte sie und warf einen Blick zur halb geöffneten Klassenzimmertür. »Ich komme immer ein bisschen früher und überprüfe, ob die Tafel sauber ist und genug Kreide da ist.« Sie verengte die Augen, und ihr Mund wurde ein schmaler, skeptischer Schlitz. »Wo sind Ihre Lehrbücher?«
»Ich wollte erst mal schauen, wie weit ihr im Unterricht gekommen seid«, antwortete er schnell, aber nicht schnell genug. Das Kind umklammerte sein Mäppchen immer noch wie eine Waffe und würde in ein paar Sekunden die ganze Schule zusammenschreien, das wusste Niall. Und dann würde man ihn wegen Einbruchs oder noch Schlimmerem einbuchten. »Muss schwierig sein, dass ihr nach Miss Walsh so viele Lehrer hattet. Hast du sie gemocht?«
Mary Catherine setzte sich an ihr Pult in der ersten Reihe, das wirklich nur ein paar Zentimeter vom Lehrerschreibtisch entfernt stand. Sie legte die Hände auf einen beeindruckenden Stapel Notizbücher, die selbst einen Bibliothekar neidisch gemacht hätten. Ihre kleine Stirn entspannte sich ein bisschen, und ihre Stimme bebte mit der gleichen Sentimentalität, mit der Hinterbliebene über längst verstorbene senile Verwandte zu sprechen pflegen. »Sie war schon in Ordnung«, sagte das Mädchen. »Außer dieser Jim war in der Nähe. Dann drehte sie durch. Man sagt, ihre Tante habe sie und ihre beiden Schwestern getötet, aber meine Mutter sagt, es war genau andersherum.« Zum ersten Mal blickten die blauen Augen ihn offen und neugierig an. »Kannten Sie Miss Walsh? Ich meine, privat?«
»Nicht sehr gut. Wir haben uns in Dublin kennengelernt.« Niall beäugte diskret die Tür und hoffte, dass es dem Mädchen nicht auffallen würde. In weniger als zwei Minuten begann der Unterricht, und er hatte immer noch keine neuen Hinweise gefunden. Als Nächstes würde er bei Father Malloy vorsprechen, und zwar mit einer hieb- und stichfesten Erklärung dafür, warum er unbedingt Roisins Tagebuch lesen musste. Falls es noch existierte. »Hat sie hier in der Schule irgendein Notizbuch aufbewahrt? Vielleicht hat sie aufgeschrieben, wie weit ihr im Unterricht gekommen seid?«
Mary Catherine griff, ohne hinzusehen, nach einem Buch aus ihrem Stapel, und damit schwanden Nialls Hoffnungen, hier das andere geheime Tagebuch über den berühmtesten Skandal der Stadt zu entdecken. Das Kind reichte ihm ein makelloses Heft mit pinkfarbenem Einband, den nach Größe angeordnete HelloKitty-Aufkleber zierten. »Ich habe alles mitgeschrieben, was sie uns beigebracht hat«, sagte
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