Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
»Schmetterlinge im Bauch«. Unser »Ich« besteht aus Kopf und Bauch – mittlerweile nicht mehr nur auf sprachlicher Ebene, sondern immer öfter auch im Labor.
Wie der Darm das Hirn beeinflusst
Wenn Wissenschaftler Gefühle erforschen, versuchen sie erst einmal irgendetwas zu messen. Sie vergeben Punkte je nach Selbstmordneigung, messen Hormonspiegel, wenn es um Liebe geht, oder testen Tabletten gegen Angst. Das sieht für Außenstehende oft nicht besonders romantisch aus. In Frankfurt gab es sogar eine Studie, bei der die Wissenschaftler aufwendige Hirnscans anfertigten, während eine studentische Hilfskraft den Probanden die Genitalien mit einer Zahnbürste kitzelte. Durch Experimente wie dieses findet man heraus, in welchen Hirnbereichen Signale aus bestimmten Körperregionen ankommen. Das hilft dabei, eine Karte des Gehirns zu erstellen.
So wissen wir mittlerweile, dass Signale der Genitalien oben mittig, knapp unter dem Scheitel ankommen. Angst entsteht im Inneren des Gehirns, sozusagen zwischen den beiden Ohren. Für das Formen von Wörtern ist ein Bereich zuständig, der etwas oberhalb der Schläfe sitzt. Moralische Gedanken entstehen hinter der Stirn und so weiter und so fort. Um die Beziehung zwischen Darm und Hirn besser zu verstehen, muss man ihre Kommunikationswege ablaufen. Wie kommen die Signale vom Bauch zum Kopf, und was können sie dort bewirken.
Signale aus dem Darm können in verschiedene Hirnbereiche gelangen, aber nicht in alle. Niemals kommen sie zum Beispiel in der Sehrinde im Hinterkopf an. Wäre dem so, würden wir Bilder oder Effekte von dem sehen, was im Darm passiert. Wohin sie allerdings kommen können, ist die Insula, das limbische System, der präfrontale Cortex, die Amygdala, der Hippocampus oder auch der anteriore cinguläre Cortex. Neurowissenschaftler werden jetzt verletzt aufschreien, wenn ich die Zuständigkeiten dieser Bereiche grob so zusammenfasse: »Ich«-Gefühl, Gefühlsverarbeitung, Moral, Angstempfinden, Gedächtnis und Motivation. Das bedeutet nicht, dass unser Darm unsere moralischen Gedanken steuert – es räumt ihm aber die Möglichkeit ein, diese zu beeinflussen. Im Labor muss man sich über Versuche Stück für Stück herantasten, um solche Möglichkeiten genauer zu überprüfen.
Abb.: Aktivierte Hirnregionen beim Sehen, beim Angsthaben, beim Wörterbilden, beim Moralempfinden und bei stimulierten Genitalien.
Die schwimmende Maus ist eines der rührendsten Experimente aus der Motivations- und Depressionsforschung. Eine Maus wird in ein kleines Wasserbecken gesetzt. Sie kommt mit den Füßchen nicht auf den Boden, also paddelt sie herum, denn sie will wieder an Land. Die Frage dabei ist: Wie lange wird die Maus für ihren Wunsch schwimmen? Im Grunde ist das eine Ursituation des Lebens. Wie sehr suchen wir nach etwas, das unserer Meinung nach da sein müsste? Das kann etwas Konkretes wie Boden unter den Füßen sein, ein Schulabschluss oder auch etwas Abstraktes wie Befriedigung und Freude.
Mäuse mit depressiven Eigenschaften schwimmen nicht sehr lange. Sie verharren immer wieder regungslos. In ihren Gehirnen können hemmende Signale scheinbar sehr viel besser durchgestellt werden als motivierende und antreibende Impulse. Außerdem reagieren sie stärker auf Stress. Normalerweise kann man neuartige Antidepressiva an solchen Mäusen untersuchen – schwimmen sie nach der Einnahme länger, ist das ein interessanter Hinweis, dass eine Substanz funktionieren könnte.
Die Forscher aus dem Team des irischen Wissenschaftlers John Cryan gingen noch einen Schritt weiter. Sie fütterten die Hälfte ihrer Mäuse mit einem Bakterium, das dafür bekannt ist, den Darm zu pflegen: Lactobazillus rhamnosus JB -1 . Dieser Gedanke, das Verhalten der Mäuse über den Bauch zu ändern, war 2011 noch sehr neuartig. Die Mäuse mit dem so aufgepimptem Darm schwammen tatsächlich nicht nur länger und hoffnungsvoller, in ihrem Blut ließen sich auch weniger Stresshormone nachweisen. Außerdem schnitten sie in Gedächtnis- und Lerntests deutlich besser ab als ihre Artgenossen. Durchtrennten die Wissenschaftler aber den sogenannten Nervus Vagus, gab es keinen Unterschied mehr zwischen den Mäusegruppen.
Dieser Nerv ist der wichtigste und schnellste Weg vom Darm zum Hirn. Er läuft durch das Zwerchfell, zwischen Lunge und Herz an der Speiseröhre hoch, durch den Hals bis in das Hirn. In einem Versuch an Menschen konnte man feststellen, dass sich die Probanden wahlweise wohl fühlten
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