Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
oder Angst bekamen, wenn der Nerv mit bestimmten Frequenzen stimuliert wurde. Seit 2010 ist in Europa sogar eine Therapie bei Depressionen zugelassen, die darauf beruht, den Vagus -Nerv so zu reizen, dass es den Patienten dadurch bessergeht. Der Nerv funktioniert also ein bisschen wie eine Telefonleitung zur Kopfzentrale, über die ein Außendienstmitarbeiter seine Eindrücke mitteilt.
Das Gehirn braucht diese Informationen, um sich ein Bild davon machen zu können, wie es im Körper so zugeht. Denn es ist so isoliert und geschützt wie sonst kein anderes Organ. Es sitzt in einem knöchernen Schädel, ist umhüllt von einer dicken Gehirnhaut und filtert jeden Tropfen Blut noch einmal durch, bevor er die Hirnbereiche durchströmen darf. Der Darm dagegen befindet sich mitten im Getümmel. Er kennt alle Moleküle aus unserem letzten Essen, fängt herumschwirrende Hormone neugierig im Blut ab, fragt die Immunzellen nach ihrem Tag oder lauscht andächtig dem Surren der Darmbakterien. Er kann dem Gehirn Dinge über uns erzählen, von denen es sonst niemals eine Ahnung hätte.
All diese Informationen sammelt der Darm nicht nur mit Hilfe eines beachtlichen Nervensystems, sondern auch auf einer riesigen Fläche. Das macht ihn zum größten sensorischen Organ des Körpers. Augen, Ohren, Nase oder Haut sind nichts dagegen. Ihre Informationen gelangen ins Bewusstsein und werden dazu benutzt, um auf die Umwelt reagieren zu können. Sie sind damit so etwas wie Einparkhilfen, wenn es um unser Leben geht. Der Darm dagegen ist eine riesige Matrix – er empfindet unser Innenleben und arbeitet im Unterbewusstsein.
Darm und Hirn arbeiten schon sehr früh zusammen. Die beiden entwerfen einen großen Teil unserer ersten Gefühlswelt als Säuglinge. Wir lieben wohlige Sattheit, verzweifeln über Hunger und quälen uns quengelnd mit Blähungen herum. Vertraute Personen füttern, wickeln und machen Bäuerchen mit uns. Als Babys besteht unser »Ich« stark fühlbar aus Darm und Hirn. Wenn wir älter werden, erfahren wir die Welt immer mehr mit allen Sinnen. Wir weinen dann nicht mehr lauthals, wenn im Restaurant das Essen schlecht ist. Die Verbindung von Darm zu Hirn ist allerdings nicht plötzlich weg, sondern nur deutlich verfeinert. Ein Darm, der sich nicht gut fühlt, könnte uns jetzt subtiler aufs Gemüt drücken, und ein gesunder, wohlernährter Darm unsere Stimmung diskreter verbessern.
Die erste Studie über die Auswirkung von Darmpflege auf gesunde menschliche Hirne wurde 2013 veröffentlicht – zwei Jahre nach der Mäusestudie. Die Versuchsleiter waren davon ausgegangen, dass bei Menschen kein sichtbarer Effekt auftreten würde. Ihre Ergebnisse überraschten nicht nur sie selbst, sondern auch die restliche Forscherwelt. Nach der vierwöchigen Einnahme von einem Mix aus bestimmten Bakterien waren einige Hirnareale deutlich verändert, darunter vor allem Bereiche für Gefühls- und Schmerzverarbeitung.
Von gereizten Därmen, Stress und Depressionen
Nicht jede unzerkaute Erbse darf im Gehirn mitmischen. Der gesunde Darm leitet kleine unwichtige Verdauungssignale nicht über den Vagus zum Gehirn weiter, sondern verarbeitet sie mit seinem eigenen Hirn – dafür hat er ja eins. Wenn ihm allerdings etwas wichtig vorkommt, kann er es für nötig halten, das Gehirn miteinzubeziehen.
Das Gehirn stellt auch nicht gleich jede Information zum Bewusstsein durch. Wenn der Vagus -Nerv Informationen zu den extrem wichtigen Orten im Kopf bringen will, muss er sozusagen am Türsteher des Gehirns vorbei. Das ist der Thalamus. Melden die Augen ihm zum zwanzigsten Mal, dass im Wohnzimmer immer noch dieselben Gardinen hängen, weist der Thalamus diese Information ab – sie ist für das Bewusstsein nicht wirklich wichtig. Die Meldung über neue Vorhänge würde beispielsweise wieder durchgelassen. Nicht bei jedem Thalamus, aber bei den meisten.
Eine unzerkaute Erbse schafft es nicht über die Schwelle von Darm und Hirn. Bei anderen Reizen sieht das wieder anders aus. So gelangen Meldungen aus dem Bauch bis in den Kopf und können dort zum Beispiel das »Brechzentrum« über einen merkwürdig hohen Alkoholgehalt informieren, dem »Schmerzzentrum« von starken Blähungen berichten oder das Auftauchen von unguten Krankheitserregern dem Sachbearbeiter »Unwohlsein« melden. Diese Reize kommen durch, weil die darmeigene Schwelle und der hirneigene Türsteher sie wichtig finden. Das gilt nicht nur für unangenehme Informationen. Manche Signale
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