Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
Oberfläche hat. Unser Immunsystem würde sofort an Bakterien erinnert, und da diese nichts in unserem Blut zu suchen haben, würde es die fremden Blutkörperchen in aller Feindschaft zerklumpen. Ohne diese Kampfbereitschaft – trainiert durch unsere Darmbakterien – hätten wir keine »Blutgruppen« und könnten munter fremdes Blut an jeden verteilen. Bei neugeborenen Babys mit nur wenigen Darmkeimen funktioniert das auch noch so. Ihnen könnte man theoretisch jede Blutgruppe geben ohne Gegenreaktion. (Weil Antikörper der Mutter in das Blut des Kindes gelangen, benutzt man im Krankenhaus sicherheitshalber die mütterliche Blutgruppe.) Sobald sich Immunsystem und Darmflora ansatzweise entwickelt haben, darf man nur noch Blut aus derselben Blutgruppe erhalten.
Abb.: Passen Antikörper auf fremde Blutzellen, verklumpen diese Blutgruppe B besitzt Antikörper gegen Blutgruppe A
Die Blutgruppenentstehung ist nur eines von vielen immunologischen Phänomenen, das von Bakterien verursacht wird. Vermutlich kennen wir die meisten noch gar nicht. Vieles, was Bakterien so tun, geht eher in Richtung »Fine-Tuning«. Es gibt pro Bakteriensorte ganz unterschiedliche Wirkungen auf das Immunsystem. Bei einigen Arten konnte man feststellen, dass sie unser Immunsystem toleranter machen. Indem sie beispielsweise dafür sorgen, dass mehr friedlich-vermittelnde Immunzellen gebildet werden, oder wie Cortison und andere entzündungshemmende Medikamente auf unsere Zellen einwirken. Das Immunsystem wird so milder und weniger kampflustig. Das ist vermutlich ein ganz guter Schachzug dieser Kleinstlebewesen – denn so ist auch ihre Chance höher, im Darm geduldet zu werden.
Dass gerade im Dünndarm von jungen Wirbeltieren (inklusive uns Menschen) Bakterien gefunden wurden, die das Immunsystem anstacheln, lässt Raum für Vermutungen. Könnte es sein, dass uns diese Anstachler helfen, die Bakteriendichte im Dünndarm niedriger zu halten? Der Dünndarm wäre dann ein Gebiet geringerer Bakterientoleranz und hätte beim Verdauen erst mal seine Ruhe. Die Anstachler selbst halten sich nicht etwa brav in der Schleimhaut auf, sondern haften fest an den Dünndarmzotten. Eine ähnliche Vorliebe haben Krankheitserreger wie gefährliche Versionen von E.coli. Wenn diese sich im Dünndarm ansiedeln wollen und ihre Plätze schon von den Anstachlern besetzt sind, müssen sie wohl oder übel wieder gehen.
Diesen Effekt nennt man Kolonisationsschutz. Die meisten unserer Darmmikroben schützen uns allein dadurch, dass sie keinen Platz für bösartige Bakterien lassen. Die Dünndarm-Anstachler gehören übrigens zu jenen Kandidaten, die wir immer noch nicht außerhalb des Darms anzüchten können. Können wir ausschließen, dass sie uns nicht vielleicht sogar schaden? Nein. Vielleicht schaden sie manchen Menschen, indem sie das Immunsystem überreizen. Fragen gibt es hier viele.
Für erste Antworten gibt es die keimfreien Mäuse aus Laboratorien in New York. Sie sind die saubersten Lebewesen der Welt. Keimfreie Kaiserschnittgeburten, sagrotanreine Gehege und dampfsterilisierte Nahrung. Desinfizierte Tiere wie sie kann es in der Natur nicht geben. Wer mit den Mäusen arbeiten möchte, muss ultimativ achtsam sein, denn bereits in ungefilterter Luft können Keime herumfliegen. Dank dieser Mäuse konnten Forscher dabei zugucken, was passiert, wenn ein Immunsystem völlig arbeitslos ist. Was geht in einem Darm ohne Mikroben vor? Wie reagiert das untrainierte Immunsystem auf Krankheitserreger? Wo kann man den Unterschied mit bloßem Auge erkennen?
Jeder, der schon einmal mit solchen Tieren zu tun hatte, würde sagen: Keimfreie Mäuse sind merkwürdig. Sie sind oft hyperaktiv und verhalten sich auffallend unvorsichtig für Mäuse. Sie essen mehr als ihre normal besiedelten Kollegen und brauchen länger beim Verdauen. Sie haben riesige Blinddärme, verkümmert-unzottige Darmschläuche mit wenig Blutgefäßen und weniger Immunzellen. Relativ ungefährliche Krankheitserreger können sie leicht umhauen.
Flößt man ihnen Darmbakteriencocktails anderer Mäuse ein, kann man Erstaunliches beobachten. Bekommen sie Bakterien von Typ- 2 -Diabetikern, entwickeln sie kurze Zeit später selbst die ersten Probleme beim Zuckerstoffwechsel. Bekommen keimfreie Mäuse Darmbakterien übergewichtiger Menschen, werden sie viel eher selbst übergewichtig, als wenn sie die Keimlandschaft Normalgewichtiger erhalten. Man kann ihnen aber auch einzelne Bakterien verabreichen und
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