Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
nennt man das »bacterial overgrowth«, also bakterielle Überbesiedlung. Symptome und Folgen dieses noch relativ unerforschten Krankheitsbildes können starke Blähungen, Bauchschmerzen, Gelenkschmerzen, Darmentzündungen oder auch Nährstoffmangel und Blutarmut sein.
Bei Widerkäuern wie Kühen ist das genau andersherum organisiert. Diese doch recht großen Tiere halten sich ziemlich gut dafür, dass sie lediglich Gras und andere Pflanzen verspeisen. Kein anderes Tier würde Veganer-Witze über sie reißen. Ihr Geheimnis? Kühe haben ihre Bakterien sehr weit oben im Verdauungsschlauch sitzen. Sie versuchen noch nicht mal zuerst selbst zu verdauen, sondern übergeben die komplizierten pflanzlichen Kohlenhydrate gleich Bacteroides und Co. Diese bereiten daraus ein leicht verdauliches Festmahl.
Wenn man seine Bakterien so weit oben im Verdauungsschlauch sitzen hat, ist das praktisch. Bakterien sind proteinreich – also essenstechnisch gesehen kleine Steaks. Wenn sie im Kuhmagen ausgedient haben, rutschen sie abwärts und werden dort verdaut. Die Kuh hat damit eine großartige Proteinquelle: winzige Mikrobensteaks aus eigener Zucht. Unsere Darmbakterien sitzen für diesen praktischen Steak-Service zu weit hinten im Darm – wir scheiden sie unverdaut aus.
Nagetiere tragen ihre Mikroben auch so weit hinten wie wir, lassen sich die Bakterienproteine aber nur ungerne entgehen. Sie essen daher einfach ihren Kot. Wir tun das nicht und gehen stattdessen in den Supermarkt und kaufen Fleisch oder Tofu – als Ausgleich dafür, dass wir die proteinreichen Bakterien im Dickdarm nicht verwerten können. Von ihrer Arbeit profitieren wir allerdings auch, selbst wenn wir sie nicht verdauen: Bakterien stellen so kleine Nährstoffe her, dass wir diese durch unsere Darmzellen aufnehmen können.
Das können sie im Übrigen auch schon außerhalb des Darmes tun. Joghurt ist nichts anderes als von Bakterien vorverdaute Milch. Der Milchzucker (Laktose) wird zu großen Teilen aufgespalten und zu Milchsäure (Laktat) und kleineren Zuckermolekülen umgewandelt. Das macht Joghurt insgesamt saurer und süßer als Milch. Die neugebildete Säure hat noch einen weiteren Effekt: Durch sie gerinnt das Milcheiweiß, und das macht die Milch fester. Deshalb hat Joghurt auch eine andere Konsistenz. Vorverdaute Milch (Joghurt) spart unserem Körper Arbeit – wir müssen nur noch weiterverdauen.
Dabei ist es klug, wenn wir solche Bakterien vorverdauen lassen, die besonders gesunde Endprodukte herstellen. Joghurthersteller mit milder Achtsamkeit setzen daher oft Bakterien ein, die mehr »rechtsdrehende« Milchsäure herstellen als »linksdrehende«. Linksdrehende Milchsäure ist ein Molekül, das genau spiegelverkehrt ist zum rechtsdrehenden Milchsäuremolekül. Das ist für unsere menschlichen Verdauungsenzyme wie eine Linkshänder-Schere für routinierte Rechtshänder: schwer bekömmlich. Deshalb greift man im Supermarkt besser zu dem Joghurt, auf dessen Inhaltsliste so etwas steht wie: »… enthält vorwiegend rechtsdrehende Milchsäure«.
Bakterien zerlegen unser Essen nicht einfach nur, sie stellen dabei auch ganz neue Stoffe her. Ein Weißkohl zum Beispiel hat weniger Vitamine als das Sauerkraut, das später aus ihm wird – Bakterien stellen die zusätzlichen Vitamine her. Im Käse sind Bakterien und Pilze für Geschmack, cremige Substanz und Käselöcher verantwortlich. Und in Lyoner oder Salami werden oft sogenannte Starterkulturen hineingegeben. Starterkulturen ist das Wort für: »Wir trauen es uns kaum zu sagen, aber die Bakterien (vor allem Staphylokokken ) machen es erst köstlich.« An Wein oder Wodka schätzen wir ein Stoffwechsel-Endprodukt von Hefen namens Alkohol. Die Arbeit der Kleinstlebewesen endet aber bei weitem nicht im Weinfass. Fast alles, was ein Weinverkoster Ihnen erzählt, findet sich so nicht in der Weinflasche. Verzögerte Geschmäcke wie der »Abgang vom Wein« sind deshalb verzögert, weil Bakterien für ihre Arbeit Zeit brauchen. Sie sitzen auf dem hinteren Bereich unserer Zunge und bauen schon dort das Essen und Trinken um. Was dabei von ihnen freigesetzt wird, gibt einen Nachgeschmack. Jeder Gourmet-Weinkenner wird ein bisschen anders schmecken – abhängig von den individuellen Zungenbakterien. Trotzdem nett, dass er uns von seinen Mikroben erzählt. Wer tut das heutzutage schon so stolz?
In unserem Mund lebt etwa ein Zehntausendstel der Bakterien, die es im Darm gibt, und trotzdem schmecken wir ihre Arbeit
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