Darm mit Charme: Alles über ein unterschätztes Organ (German Edition)
Gelüste äußern. Wer eine lange Zeit keine Süßigkeiten isst, vermisst sie irgendwann nicht mehr so sehr. Wurde da etwa die Schoko- und Gummibärchenlobby ausgehungert? Wir können hier nur mutmaßen.
Vor allem darf man sich den Körper nicht als zweidimensionales Effekt-Wirkungs-Gebilde vorstellen. Hirn, Restkörper, Bakterien und Nahrungsbestandteile interagieren vierdimensional. Alle Achsen besser zu verstehen bringt uns sicher am meisten weiter. An den Bakterien können wir allerdings schon besser rumschrauben als an unserem Gehirn oder unseren Genen – und das macht sie so spannend. Was Bakterien uns füttern, ist nicht nur interessant für Bauchspeck und Oberschenkel-Pölsterchen; sie spielen zum Beispiel mit, wenn es um Blutfettwerte wie Cholesterin und Co. geht. In dieser Erkenntnis liegt einige Brisanz: Übergewicht und hoher Cholesterinspiegel sind mit den großen Gesundheitsproblemen unserer Zeit verknüpft: Bluthochdruck, Arteriosklerose und Diabetes.
Cholesterin und Darmbakterien
Der Zusammenhang von Bakterien und Cholesterin wurde erstmals in den siebziger Jahren entdeckt. Amerikanische Forscher hatten Massai-Krieger in Afrika untersucht und sich über ihre niedrigen Cholesterinspiegel gewundert, denn: Diese Krieger aßen praktisch nichts außer Fleisch und tranken Milch wie Wasser. Dieses Übermaß an tierischem Fett führte allerdings nicht zu hohen Blutfettwerten. Die Wissenschaftler vermuteten einen geheimnisvollen Milchstoff, der den Cholesterinspiegel niedrig halten könnte.
In der Folgezeit unternahmen sie alles, um diesen Milchstoff zu finden. Neben Kuh- wurden auch Kamel- und Rattenmilch getestet. Mal klappte es, den Cholesterinspiegel zu senken, mal nicht. Mit diesem Ergebnis konnten die Forscher nichts anfangen. In einem anderen Versuch wurde den Massai statt Milch ein pflanzlicher Ersatz (Coffeemate) mit hohem Cholesterinzusatz verabreicht – der Cholesterinspiegel der Probanden stieg trotzdem nicht. Dies sahen Wissenschaftler als die Wiederlegung ihrer Milch-Hypothese an.
Dabei hatten sie fein säuberlich notiert, dass die Massai ihre Milch oft »geronnen« tranken. Dass es aber bestimmte Bakterien braucht, um Milch gerinnen zu lassen, daran dachte niemand. Es wäre auch eine logische Erklärung des Coffeemate-Versuchs gewesen. Vorher angesiedelte Bakterien können im Darm schließlich auch weiterleben, wenn man auf pflanzliche Ersatzmilch mit Cholesterin umsteigt. Selbst als Massai ihre Cholesterinspiegel um 18 Prozent senkten, wenn sie »geronnene« statt normaler Milch tranken, suchte man noch immer den mysteriösen Milchstoff. Blinder Fleiß ohne Erfolg.
Diese Studien an den Massai würden heutigen Ansprüchen nicht mehr genügen. Die Versuchsgruppen waren sehr klein. Massai laufen täglich etwa 13 Stunden und durchleben jedes Jahr auch Monate des Fastens – man kann sie nicht einfach mit Fleisch essenden Europäern vergleichen. Allerdings wurden die Ergebnisse dieser Studien Jahrzehnte später wiederentdeckt. Von Forschern, die mittlerweile ein Bakterien-Bewusstsein hatten. Cholesterinsenkende Bakterien? Warum nicht mal im Labor ausprobieren: einen Kolben mit Nährstoffbrühe, bei angenehmen 37 °C, Cholesterin rein und Bakterien dazu – et voilà. Das verwendete Bakterium war Lactobacillus fermentus , und das beigefügte Cholesterin war … weg. Zumindest ein beachtlich großer Teil davon.
Experimente können sehr unterschiedlich ausgehen – je nachdem, ob man sie in einem Glaskolben oder in Opisthokonta durchführt. Es ist dann eine Achterbahnfahrt der Gefühle, wenn ich in wissenschaftlichen Artikeln Sätze lese wie: »Das Bakterium L. plantarum Lp 91 kann hohe Cholesterinspiegel und andere Blutfettwerte deutlich senken, steigert das gute HDL und führt zu deutlich geringeren Arteriosklerose-Raten, wie man erfolgreich an 112 syrischen Goldhamstern zeigen konnte .« Noch nie war ich von syrischen Goldhamstern so enttäuscht. Versuche an Tieren sind der erste Weg, Experimente im lebenden System zu testen. Stünde da »wie man erfolgreich an 112 übergewichtigen Amerikanern zeigen konnte«, wäre die Sache wesentlich eindrucksvoller.
Ein solches Ergebnis ist trotzdem viel wert. Studien an Mäusen, Ratten und Schweinen haben für manche Bakterienarten so gute Ergebnisse gezeigt, dass man es sinnvoll fand, sie auch an Menschen durchzuführen. Ihnen wurden regelmäßig Bakterien eingeflößt, und nach gewisser Zeit wurde ihr Cholesterinspiegel gemessen. Die dafür benutzten
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