Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Szenerie. Rote, purpurne, grüne und ganz weiße Sedimentgesteine, im Wechsel mit schwarzer Lava, waren von Porphyrmassen einer jeden Farbschattierung, vom dunkelsten Braun bis zum hellsten Lila, aufgebrochen und in jede erdenkliche Unordnung geworfen worden. Die Farbigkeit der Andenfelsen im klarsten Licht der Erde gehört für mich zu den siebenundsiebzig Wundern dieser Welt.
Auf der geologischen Zeitskala war Darwin gerade erst hier. Alles noch so, wie er es beschreibt. Weder Pflanze noch Vogel … lenkte die Aufmerksamkeit von dieser unbeseelten Masse ab. Ich war glücklich, mit mir allein zu sein, es war wie das Betrachten eines Gewitters, oder in voller Orchester-Besetzung den Messias-Chor zu hören. Dieser eine Anblick steht in meinem Gedächtnis gesondert von allen anderen .
Hinter der chilenischen Zollstation geht es in einen Tunnel mit dem Namen Cristo Redentor, Christus Erlöser. Der alte Pass liegt auf fast viertausend Metern Höhe. Eine halsbrecherische Piste führt schlangenförmig über eine rotbraune Halde nach oben. Der Grund für die Anbindung, die sich auf argentinischer Seite nicht minder herausfordernd fortsetzt: Am Grat unterhalten die benachbarten Staaten, nur
einen Steinwurf voneinander entfernt, jeweils einen kleinen Militärposten, beide aus groben Natursteinen gemauert. Ein scharfer Wind aus Westen weht. Die Flaggen flattern tapfer für die gute Sache.
Genau auf der Grenzlinie ist ein Wunder passiert: Gemeinsam haben die Nachbarn einen mit Sockel zwölf Meter hohen Bronze-Jesus aufgestellt, der wie ein Riese auf seiner kleinen Erdkugel steht und als »Monument für den Weltfrieden« dem letzten Papst gewidmet ist. Doch wie teilt man Christi Blick? Der Bildhauer Mateo Alonso muss ein gutes Auge gehabt haben. Der Gottessohn hebt drei Finger der Rechten, hält mit der Linken sein symbolisch verkleinertes Kreuz wie einen Wanderstab und schaut nicht links, nicht rechts, sondern exakt die Grenzlinie entlang geradeaus nach Norden zum Aconcagua hinüber, mit 6959 Metern höchster Berg der Anden.
Sauerstoffarmut bringt nach wenigen Schritten bergauf das Herz zum Rasen. Die Kurzatmigkeit durch die dünne Luft wird von den Chilenen puna genannt. So muss es gewesen sein, als Darwin seinen rauschhaften Moment der Erkenntnis hatte. Die einzige Empfindung, die ich verspürte, war eine leichte Enge um Kopf und Brust. … Die Bewohner empfehlen gegen die puna allesamt Zwiebeln … was mich betrifft, so wirkte bei mir nichts so gut wie die fossilen Muscheln!
Frühere Meeresbewohner am höchsten Punkt der Wanderung! Das ganze Gebirge muss aus dem Ozean aufgestiegen sein! Darwin am Zenit. Wie auf einer Bühne erzählen die Steine ihm ihre Geschichte. Was sagte noch die alte Dame im New Yorker Museum zu ihren Jugendlichen? »Hier hat die Natur zu ihm gesprochen.« Tagtäglich wird es dem Geologen vor Augen geführt, dass nichts, nicht einmal der Wind, der weht, so instabil ist wie die obere Schicht der Erdkruste. Nun kann ihn nichts mehr von seiner Überzeugung abbringen, dass auch die größten Dinge über unzählige kleine Schritte entstehen.
Die wahre Sensation liefert ihm jedoch die lebendige, vor seinen Augen blühende Biologie. In den Anden findet er das Material für den letzten unverzichtbaren Baustein seiner Theorie: die geografische Trennung als Voraussetzung für die Abspaltung und die getrennte Evolution der Arten. Sehr auffallend war der beträchtliche Unterschied zwischen der Vegetation dieser östlichen Täler und jener auf der chilenischen Seite; das Klima jedoch wie auch die Beschaffenheit des Bodens sind nahezu
gleich, und der Unterschied der geografischen Länge ist ganz unbedeutend. Dieselbe Bemerkung trifft auf die Vierfüßer zu, in geringerem Maße auf die Vögel und Insekten.
Eine direkte Konfliktlinie mit dem gängigen Schöpfungsmythos: Wenn der Herrgott für jedes Klima die jeweils bestens angepassten Spezies erschaffen hat, warum sollte er, nur weil ein Gebirge dazwischensteht, zwei unterschiedliche Typen erfinden, und dann auch noch so nahe miteinander verwandte? Warum andrerseits ähneln die Arten trotz verschiedener Klimazonen auf jeder Seite der Anden einander viel mehr als über das Gebirge hinweg? Die Antwort: Wenn diesseits und jenseits eines Gebirges oder eines Gewässers zwei Gruppen einer Art den Kontakt verlieren, sich nicht mehr untereinander fortpflanzen und folglich auch kein Erbgut mehr austauschen, dann entwickeln sie sich über viele Generation so weit
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