Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
intensiv mit den Krebstieren beschäftigt, zu denen auch Entenmuscheln und Seepocken gehören.
Ich brach zu einer Reise nach Coquimbo auf. Darwin legt die gesamte Strecke bis zur Atacama-Wüste zu Pferd zurück. Ich entdecke hier eine neue Maßeinheit: Ein Chilometer, das ist die Distanz einmal bis zum Horizont. Die Straße führte … die Küste entlang in keiner allzu großen Entfernung vom Meer. Die wenigen Bäume und Büsche … wurden von einer hohen Pflanze abgelöst, deren Aussehen dem Yucca ähnelt. Coquimbo liegt malerisch auf einer hügeligen Halbinsel im Pazifik, von einem überdimensionierten Betonkreuz zu Ehren des Heilands beherrscht. Das »Kreuz des Dritten Jahrtausends« wurde gerade fertig, als der polnische Papst den Ort besuchte. Das einst verschlafene Nest hat sich seither zum Treffpunkt der Jugend gemausert, die im sorgfältig restaurierten Englischen Viertel nächtens die Barszene belebt. Ansonsten ist sich Coquimbo als lebendiges Hafenstädtchen treu geblieben mit Fischern und Booten wie aus dem Bilderbuch des Arbeiterlebens.
In der lebendigen kleinen Universität hat Martin Thiel ein Zuhause gefunden. Der Meeresbiologe kann seine Herkunft nicht verheimlichen. Schwerstes Ostwestfälisch, Gegend Münster, verbunden mit leichter Heiterkeit. Der Sechsundvierzigjährige kennt zwar nur »die gängigen Cirrepedia in Chile«, aber da er stattdessen die Gruppe der Amphipoden, winzige im Strandsand lebende Flohkrebse, erforscht, will ich mir den gleichaltrigen Darwin mit seinen Rankenfüßern ein wenig wie ihn vorstellen.
Erst die geduldige Kleinarbeit von Leuten wie Thiel schafft das Wissen, das ökologische Analysen und Naturschutz ermöglicht. Stunden im Schlamm die »Peitschen« der Flohkrebse beobachten, im Sediment ihren Gängen nachspüren, tagelanges Sezieren unter dem Mikroskop, Publizieren für eine Handvoll Fachkollegen. Thiel erzählt gerade von seinen mit den Asseln verwandten Sedimentbewohnern (mit unvorstellbaren zehntausend beschriebenen Arten), von ihrem Sexual- und Brutverhalten (Aufzucht von Jungtieren in Brusttaschen), von ihren unterschiedlichen Ernährungsstrategien im oder auf dem
Sand, ihrem Sozialverhalten (Organisation ähnlich wie Bienen oder Ameisen mit Arbeitsteilung und Verzicht auf Nachkommenschaft zum Wohle der Gemeinschaft) - da bebt die Erde.
Ich hörte das vorausgehende Grollen. Darwin erlebt an gleicher Stelle nach dem Jahrhundertbeben von Concepción ein weiteres kleineres. Da habe ich meinen Zufall. Oder nicht? Die Schränke wackeln ein wenig, als durchliefe eine Welle das Gebäude, überall klappert und klingelt es. Kaum kann ich reagieren, herrscht wieder Ruhe. Kein Mensch im Gebäude hat sich von seinem Sitzplatz erhoben. Solche kleinen Beben kommen hier so häufig vor, dass sie es nicht einmal in die Zeitung schaffen. Dem Neuling aber dringt das Rollen der Scholle tief ins Mark. Dieses Gefühl, dass da direkt unter uns etwas unendlich viel Mächtigeres existiert als alles, was wir je geschaffen haben.
Chilometer fressen, bis die Tankuhr zittert. Das wird schnell zum Lebensgefühl im Lulatsch unter den Ländern. Geröll, Staub und Weite - zum Westen Meer, zum Osten Berge. Wir ritten den ganzen Tag durch uninteressantes Land. Ich bin es leid, die Epithea karg und unfruchtbar zu wiederholen. Schwertransporter mit Erzen und Esel auf der Straße als einzige Abwechslung. Bodenschätze, die Droge dieses Landes. Ein kleiner Pass, die Felsen schimmern kupfergrün, dahinter dehnt sich die eigentliche Atacamawüste. Wenn irgendwo auf dieser Welt, hier passt das Wort lebensfeindlich.
Weiter nördlich bei der Stadt Antofagasta haben Forscher vor Kurzem ein absolut totes Stück Erde aufgespürt. Das Erdreich war vollkommen unfruchtbar, vergeblich suchte ich auch nur nach einer Flechte, die sich an den Stein klammerte. Wo keine Spur von Wasser vorkommt, können nicht einmal Mikroben mit extremsten Anpassungen existieren. Die NASA erforscht die Gegend schon zur Vorbereitung der nächsten Mars-Expedition. Wenn man durch diese Wüsteneien reist, kommt man sich vor wie ein Häftling, der in einem düsteren Hof eingeschlossen ist und sich nach etwas Grünem und dem Geruch feuchter Luft sehnt.
Kurz hinter dem Ort Incahuasi weiche ich ab von Darwins Weg - aber nicht von unserem Thema, dem Leben. Eine schmale Teerstraße führt von der Geröllebene hinauf in die Berge. Schon aus weiter Ferne zeichnen sich im Abendlicht die Silberkuppeln des Observatoriums von La Silla ab.
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