Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
bis heute fest im Griff hat. Doch dann stellt er Überlegungen an, die fast malthusische Anklänge haben: Es heißt, zahlreiche Kinder gingen unweigerlich schon in frühem Alter an den Folgen ihres Wanderlebens zugrunde, und da die Schwierigkeiten der Nahrungsbeschaffung zunähmen, müssten sie auch mehr umherziehen, weswegen die Bevölkerung … äußerst rapide dezimiert wird, und das ohne ersichtliche Hungertote.
In seinem Reisejournal macht er eine erschütternde Feststellung - ein weiterer, wenn auch sehr verkappter Versuchsballon: Die Varietäten des Menschen scheinen genauso wie verschiedene Tiere aufeinander einzuwirken - wobei der Stärkere den Schwächeren ausrottet. Das ist nichts anderes als Survival of the fittest , ein Vierteljahrhundert bevor Herbert Spencer den Slogan erfindet. Schließlich führt Darwin auch europäische Krankheiten als Ursache an und vermutet eine noch rätselhaftere Kraft am Werk. Wo sich der Europäer auch hinwendet, scheint der Tod die Eingeborenen zu verfolgen, … Dies wird dadurch bemerkenswert, dass sich die Krankheit bei der Mannschaft jenes Schiffs, das den zerstörerischen Importartikel gebracht hat, nicht bemerkbar macht. Er hätte auch das Zeug gehabt, die Mikroorganismen zu entdecken. Beinahe hellseherisch schließt er: Danach möchte es fast scheinen, dass die Ausdünstungen einer Gruppe Menschen, die einige Zeit lang zusammen eingeschlossen waren, giftig sind, wenn sie von anderen eingeatmet werden, und möglicherweise desto giftiger, wenn die Männer verschiedenen Rassen angehören.
Verblüffend, wie aktuell seine Einsichten immer wieder daherkommen. Er zeichnet die dramatische Szene einer paralysierten Parallelgesellschaft, in der Ureinwohner und Einwanderer wie zwei Spezies ohne innere Verbindung nebeneinanderher leben: Es ist eigenartig, inmitten eines zivilisierten Volkes Gruppen harmloser Wilder so herumziehen zu sehen, ohne dass sie wissen, wo sie nachts schlafen werden. Die Siedler geben ihnen Schlachtabfälle und etwas Milch, während sie immer weiter ins Landesinnere vorstoßen. Der gedankenlose Eingeborene … freut sich über das Nahen des weißen Mannes, der ausersehen scheint, das Land seiner Kinder zu erben.
Die Stämme führen, unberührt von den Einwanderern, weiter Kriege gegeneinander. Es kommt sogar vor, dass sie als Schlachtfeld … den Mittelpunkt [eines] Dorfes wählen. Welch bizarre Vorstellung, dass Europäer, befreite Häftlinge wie freie Siedler, dem Krieg der Ureinwohner zusehen wie heute Touristen den Aufführungen in Bühnenshows.
Mit solchen Bildern und der frischen Erinnerung an die selbstbewussten Maori reise ich in einem Land, das in diesen Tagen fast nur ein Thema kennt: »Sorry«. Die neue Mitte-links-Regierung unter Kevin Rudd hat ihren Wahlkampf mit dem Versprechen gewonnen, sich bei den Ureinwohnern zu entschuldigen. Rudds konservativer Vorgänger John Howard hat das stets abgelehnt und eine Mehrheit hinter sich gewusst. In den Zeitungen wird die Debatte mit einer Heftigkeit ausgetragen, als stritten sie darum, das Land seinen vormaligen Besitzern wieder auszuhändigen.
Dabei geht es nicht einmal darum, das Kulturvolk für den Raub seines Landes um Verzeihung zu bitten. Dafür wäre »sorry« ein viel zu kleines Wort. Der Papst hat es bei seinem Besuch im Juli 2008 ausgesprochen, Großbritannien bislang noch nicht. So gesehen müsste sich Europa bei der halben Welt entschuldigen. Nein, hier geht es um die »gestohlenen Kinder«, einen rassistischen Schandfleck in der Geschichte Australiens. Zwischen 1910, kein Jahrzehnt nach der Gründung der Föderation, und 1970 hat die Regierung Ureinwohnereltern bis zu fünfzigtausend Kinder weggenommen und sie in Heimen und bei Adoptiveltern aufwachsen lassen. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für das es eigentlich keine Entschuldigung gibt. Oder doch?
Für viele unterdrückte Völker fühlt sich das, was ihnen durch
Europäer passiert ist, nicht viel anders an als für die Aborigines. Sie sehen sich gezwungen, nach den Spielregeln der neuen Herrscher zu leben und deren Lebensweise, deren Werte wie deren Drogen, in ihre Gemeinschaft einbrechen zu lassen. Würden wir zum Beispiel unseren Eigentumsbegriff aufgeben, weil andere keinen haben? Die Demokratie, den Sozialstaat, die Schulpflicht, die Gleichberechtigung der Geschlechter? Wohl kaum.
In Australien wurden Aborigines noch vor zwei Generationen nicht als Menschen gleichen Entwicklungsstands betrachtet. Da war längst klar,
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