Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
dass sie nach Zehntausenden Jahren eigener Entwicklung bei Weitem die älteste noch existierende Menschheitskultur repräsentieren. Und nicht nur das. Dass sie zur selben Spezies gehören, mussten sie in aller Regel unfreiwillig beweisen. Obgleich das Gut mit allem Nötigen reichlich versehen war, notiert Darwin in Wallerawang, fehlte es doch offenkundig an Behaglichkeit, auch lebte dort keine einzige Frau.
Der Männerüberschuss bei den Siedlern entlädt sich in Vergewaltigungen und Zwangsehen. Die Mehrheit derer, die sich heute Aborigines nennen, hat deshalb Europäer unter ihren Vorfahren. Vor allem solche »Gemischtrassigen« fielen der Kinderverschleppung zum Opfer - mit der unterschwellig rassistischen Begründung: Wer unser Blut hat, soll auch unsere Kultur leben, von der Religion einmal ganz abgesehen. Ziel der verfehlten Politik war es, die Ureinwohner durch »Herausbrüten der Farbe« allmählich zum Aussterben zu bringen.
Meine Nächte in der Region von Sydney verbringe ich im fahrbaren Heim am Strand von Whale Beach - eng wie auf der Beagle, aber vor mir die Weite der Tasmanischen See. Den Hang hinauf ziehen sich die Villen der Millionäre, die morgens zum Schwimmen im Meerwasserbecken kommen, zum Joggen, Wellenreiten oder Gang mit dem Hund. Unter der Woche gehört mir der Strand ansonsten fast allein. Am Wochenende aber strömen sie in Scharen, bis alle Park- und Grillplätze besetzt sind, die Lust der Kinder widerhallt und die Papierkörbe sich allmählich füllen. Diese Stadt liebt das Wasser, ihre Strände, ihre Körper. Noch ein übererfülltes Klischee. Blond, Astralleib und Surfbrett sind eher die Regel als die Ausnahme. Doch wo ich hinschaue, neben »Weißen« sehe ich Inder und Südostasiaten, Chinesen,
Araber und sogar eine Gruppe Maori, aber niemanden, der auch nur entfernt wie ein australischer Ureinwohner aussieht.
In der Stadt geht es mir nicht anders. Die Zeitung ist voll von der Debatte um das »Sorry«, aber selbst auf der Fress- und Vergnügungsmeile um Darling Harbour blicke ich nicht ein Mal in eines dieser dunklen Gesichter, deren Bilder die Welt kennt. Erst vor der Oper, dem Weltwunderhaus aus gebauter Musik, beobachte ich einen jungen Mann, der auf seinem Didgeridoo spielt und sich für Geld halbnackt in voller Bemalung mit Touristen fotografieren lässt. Ich frage Passanten: »Wo sind eure Ureinwohner?«, aber außer peinlichem Schweigen oder umständlichen Antworten ist nichts herauszubringen: »Die wohnen in ihren eigenen Siedlungen.« - »Die gehen nicht an den Strand.« - »Die meisten leben im Nordwesten.«
Als ich Frank Nicholas, den Hobby-Darwinforscher, in seinem stilvollen alten Stadthaus in Sydney mit meiner Suche konfrontiere, verfällt er in ein Räuspern: »Das ist eine schwierige Frage.« Da ihm die Kultur der Ureinwohner so fremd ist wie fast allen Landsleuten, vereinbaren wir, uns gemeinsam einer organisierten Wanderung auf einem »Traumpfad« anzuschließen. Eine Bahnstunde von Sydney entfernt, im Herzen der Blue Mountains, Treffpunkt Bahnhof Faulconbridge, acht Teilnehmer. Dass außer Nicholas kein Australier an der Exkursion teilnimmt, überrascht unseren Führer nicht. Das weiße Australien interessiere sich nicht für die Kultur, die es verachtet, sagt Evan Yanna Muru. Fragt sich nur, was er mit dem »weißen« Australien meint.
Der schlaksige Mann, Mitte dreißig, Dreitagebart, Baseballkappe und hellblaue Augen, würde in Kiel oder Chemnitz niemandem als irgendwie »fremd« auffallen. Er ist, wenn er seine Ahnenreihe zurückverfolgt, zu einem Sechzehntel Ureinwohner. »Es kommt nicht auf das Blut an«, erklärt er den Staunenden, die auf einen »echten« Stammesangehörigen gehofft haben, »sondern auf den Spirit.« Er fühle sich als Ureinwohner, also sei er einer, und zwar aus dem hiesigen Darug-Land.
Ich ertappe mich bei einer sonderbaren Spielart von Rassismus. Wie kann sich einer, der zu über neunzig Prozent europäisches »Blut« in seinen Adern weiß und »westlich« lebt wie die meisten seiner Landsleute, auf seine fernen Ursprünge berufen? Nutzt da nicht einer
nur für sein Geschäft eine Tatsache, die ihm woanders in der Welt als Betrug angelastet würde? Wie würden wir in Europa reagieren, wenn jemand, nur weil sein Urururgroßvater zufällig Japaner oder Iraner gewesen ist, als Vertreter dieser Kultur aufträte? Aber wo würden wir die Linie ziehen? Reicht uns eine Hälfte, ein Viertel? Sollen wir einen Ureinwohnernachweis verlangen?
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