Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
Die Regierung erkennt jeden als solchen an, den die Gemeinschaft als einen der ihren sieht. Umgekehrt verschleiern Aborigines, die in der weißen Gesellschaft »angekommen« sind, mitunter ihre Herkunft.
Die dunkle Hautfarbe und andere afrikanisch anmutende Merkmale »verdünnen« sich genetisch so schnell, dass die Abstammung nach wenigen Generationen nicht mehr ins Auge fällt. Die Grenze verwischt sich. Womöglich habe ich in Sydney »Ureinwohnern« ins Gesicht geblickt, ohne es zu merken, oder sogar ohne dass sie es selbst noch wüssten. Die Zahlen über den Anteil an der australischen Bevölkerung - genannt wird eine halbe Million von gut zwanzig Millionen - besitzen also keine große Aussagekraft. In ein paar Generationen wird außer frisch Zugewanderten ohnehin kaum noch ein Australier leben, der keinen Ureinwohner unter seinen Vorfahren weiß.
Der »weiße Ureinwohner« erteilt uns eine Lektion. Ob er damit seinen Lebensunterhalt verdient oder nicht - es sind auch Leute wie er, die eine der bedeutsamsten weltkulturellen Erbschaften am Leben erhalten. »Quai da ngalaringi nangami«, sagt er, als wir in den dichten Wald vordringen, und es wird das Einzige bleiben, was er im Dialekt »seines« Volkes äußert. »Willkommen in unserer Traumzeit.« Am Ende unserer Tagestour muss auch Frank Nicholas als skeptischer Genetiker beschämt gestehen, dass es hier nicht auf biologisches Erbe ankommt, sondern auf kulturelles. Freimütig räumt er die »Schande« ein, dass er wie fast alle seine Landsleute, auch seines Bildungsstands, so erschreckend wenig über die Kultur seiner angestammten Mitbewohner weiß.
Der Kontinent ist, wie neue genetische Analysen zeigen, vor rund fünfzigtausend Jahren nach langer Wanderung von Afrika aus in einer Welle besiedelt worden, als zwischen Asien und Australien eine Landbrücke bestand. Seither hat sich die Population nicht mehr mit anderen Menschenvölkern vermischt, sondern nur irgendwann in zwei Gruppen geteilt, die offenbar keinen Kontakt miteinander hatten.
Kulturell haben sich die Einwanderer, während sie sich über den Kontinent verteilten, in eine Vielzahl von Völkern aufgespalten, die schließlich in 153 unterschiedlichen Sprachen aus 62 Sprachfamilien miteinander redeten.
Der Traumpfad, ein uralter Lehrweg der Aborigines, hat uns im dichten Eukalyptuswald an einen heiligen Ort geführt. Grillen veranstalten ein ohrenbetäubendes Zirpkonzert. Rund zwanzig Spezies dieser Insekten verteilen sich auf die verschiedenen Nischen. Zu unseren Füßen hebt sich ein gewaltiger, liegender Monolith aus dem Waldboden. Die scheinbar glatte Oberfläche verrät ihr Geheimnis zunächst nicht. Als Evan den Fels mit Wasser benetzt, öffnet er uns buchstäblich die Augen für ein Stück Kultur, das es so nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Tiere werden sichtbar, Känguru und Schlange erscheinen und andere geheimnisvolle Symbole.
»Was ihr hier seht, ist zugleich Kunst und eine uralte Bildungseinrichtung.« Das Alter des Reliefs wird auf 22 000 Jahre geschätzt. In der Mythologie haben Geisterwesen in Menschengestalt auf ihren Wanderungen hier ihre rätselhaften Botschaften hinterlassen. Der weiße Ureinwohner weckt die Szene zum Leben. Clans von vielleicht fünfzig Leuten folgen auf ihren Wanderungen den Traumpfaden der Ahnenwesen. Sie suchen diesen Ort wie Abertausende andere solcher Plätze in Australien für ein paar Stunden auf.
Die Abbildungen entlang der »Songlines« funktionieren nur zusammen mit gesungenen, sich ständig weiterentwickelnden Geschichten, die ein hochdifferenziertes Bild vom Leben, von der Natur und der Welt ergeben. Da geht es um spirituelle Erfahrungen ebenso wie um handfeste Ausbildung. Und natürlich um das »Träumen«, eine uralte Meditationstechnik, die zu Trancezuständen führen, aber auch während des bewussten Sprechens gleichsam auf einer halbbewussten Nebenschiene weiterlaufen kann. Mit ihrer Traumzeit gelten die Aborigines als Meister dieser Technik.
Eine kulturelle Errungenschaft, die sich nicht nur über das Bewahren und Weitererzählen der Geschichten zu den Bildern fortpflanzt. Die Aborigines haben als stabile Gesellschaften im Einklang mit der Natur gelebt. Sie verstanden sich selber und ihre Körper in einem Maß als Teil der Biosphäre, wie es die expansive abendländische Kultur nie gekannt hat. Nicht nur antike Tempel, Städte und Landschaften
verdienen Schutz als kulturelles Erbe, sondern auch gelebte Kultur, die uns Zusammenhänge für das
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