Darwin - Das Abenteuer Des Lebens

nicht daran hindern, mit Darwins Ideen Machtergreifung und Massenmord zu begründen. Darwinistisch betrachtet verleiht ihre Macht ihnen ihr Recht. Survival of the most brutal.
    Militärjuntas und lokale Kriege prägen die Geschichte Argentiniens bis in unsere Tage. Wie die meisten seiner Landsleute kann mein
Führer Rodolfo die »guerra sucia« nicht vergessen, den schmutzigen Krieg zwischen 1976 und 1983, als die Junta etwa dreißigtausend Menschen verschwinden ließ. Nach Opfern wird heute noch gefahndet. Wie oft nach Schreckensherrschaften muss erst eine Generation vergehen, bis ein Volk aus dem Schatten seiner Geschichte treten kann. »Diese Zeit hat das Zusammenleben zerrüttet«, sagt Rolf. Die Vertrautheit im Privaten sei groß, in der Öffentlichkeit halte sich jeder zurück. Das Gleiche habe ich Menschen nach dem Mauerfall in Brandenburg sagen hören.
     
    Stunde um Stunde eintönige Öde, ein einziger kreisrunder Horizont, der unmerklich über konturloses Flachland wandert. Trotz der Viehherden wirkt das Land merkwürdig tot. Die unzähligen Herden Pferde, Rinder und Schafe haben nicht nur das gesamte Bild der Vegetation verändert, sondern auch Guanako, Hirsch und Strauß nahezu vollständig vertrieben. Diese Landschaft macht tatsächlich melancholisch.
    Wir lassen Bahía Blanca mit seinem Gürtel aus Industrieanlagen und Raffinerien, Slums und Müllhalden hinter uns - zu Darwins Zeiten verdient [es] kaum den Namen Dorf - … und brachen zur Sierra de la Ventana auf . Vor uns schiebt das einzige Gebirge in der Provinz Buenos Aires seine Gipfel über den Horizont und zwingt die Straße schließlich zu Kurven. Der Ritt war … interessant, da der Berg nach und nach seine wahre Gestalt offenbarte.
    Das Massiv trägt seinen Namen nach einer der Bergspitzen, durch die man wie durch ein Fenster - eine »ventana« - in den Himmel blicken kann. Doch je näher es rückt, desto größer die Enttäuschung. Der hohle Gipfel bleibt die einzige Attraktion. Ich glaube, nirgendwo hat die Natur einen einsameren, trostloseren Haufen Steine aufgetürmt. Das ist das Merkwürdige am Nachreisen, und es geht Darwin mit Humboldt nicht anders als mir mit ihm: Meist sucht man das, was der andere beschreibt, vergebens, dann wieder lesen sich seine Schilderungen wie exakte Skizzen des Bildes, das man in diesem Moment vor Augen hat.
    Selbst der Blick war nichtssagend - eine Ebene wie das Meer, jedoch ohne seine schöne Farbe und definierte Kontur. Die Szenerie indes war neuartig, und ein wenig Gefahr verlieh ihr Würze wie Salz dem Fleisch . Einmal stößt er auf die Spuren eines Pumas, ein andermal der Pampasindianer , aber
passiert ist ihm nichts. Er reist nahe genug am Puls der Zeit, aber weit genug weg von ihren Bedrohungen.
    Manchmal können die Parallelen auch unheimlich werden. War ich nicht am selben Kalendertag bei den Riesentieren von Pehuén-Co? Wurden wir nicht auf derselben Strecke mit Matsch bespritzt wie er? Mein Tier fiel, und ich war reichlich beschmiert mit schwarzem Schlamm . Uns erwischt es kurz hinter Tapalqué, als wir auf seiner Spur eine Schotterpiste nehmen und der Camper im Dreck stecken bleibt. Wir wechseln uns mit Schieben und Fahren ab, aber außer aufspritzendem Straßenbelag bewegen wir nichts. Ein Bauer muss uns mit seinem Jeep aus dem Schlamassel befreien.
     
    Auf einer breiten Einfallstraße gelangen wir ins Zentrum der argentinischen Hauptstadt - oder besser gesagt: in eines der vielen Zentren in diesem metropolitanen Zehn-Millionen-Gedränge. Mein erster Eindruck: Größe macht noch keine Größe. Der französisch-schweizerische Architekt Le Corbusier hat Buenos Aires einmal als »Stadt im Irrtum« beschrieben, »die keinen neuen Geist besitzt und keinen alten«. Tatsächlich sieht die ganze Stadt europäischer aus als irgendeine andere, die ich in Südamerika gesehen habe. Man könnte auch sagen: Sie konnte sich nie ganz von Europa lösen und ist deshalb nie in Amerika ankommen.
    Wenn der spanische Dichter José Ortega y Gasset von einer »Stadt mit dreihundert Millionen Widersprüchen« schreibt, dann verwischt er den einen wesentlichen: Wie in ganz Südamerika bricht sich das Licht in erster Linie an den sozialen Grenzen. Wie eng die Fesseln des Existenzminimums sind, lässt sich allein schon an den Cartoneros ablesen. Sie sammeln nächtens bis in die frühen Morgenstunden die Papier- und Pappabfälle der Stadt ein und geben sie über Zwischenhändler zum Kilopreis weiter. Noch während die