Darwin - Das Abenteuer Des Lebens

letzten Banker und andere Geschäftsleute ihre blank geputzten Bürotürme im Microcentro, der Downtown von Buenos Aires, verlassen und sich in den umliegenden Lokalen »ein Schoppe« genehmigen, ein frisch gezapftes Bier, bevölkert dieses Lumpenproletariat mit seinen Säcken und Karren die Straßen. Oft sind es ganze Familien, die aus weit entfernt liegenden Elendsvierteln allabendlich zur Arbeit im Dunkeln erscheinen.
    Die Zweiklassenschichtung sorgt für ein reibungsloses Recycling,
ohne dass sich die Rohstoffverbraucher weiter um ihre Hinterlassenschaften kümmern müssten. Kaum irgendwo zeigt sich deutlicher der Zynismus der Eigenverantwortungsphilosophie, nach der jeder sich selbst durchbeißen muss. Darwin fällt ein vernichtendes Urteil über den Charakter der höheren und gebildeteren Klassen . Der Bürger ist ein ausschweifender Effekthascher, der über alle Religionen lacht; er ist bereit zur größten Korruption; sein Mangel an Prinzipien ist vollständig. Eine Gelegenheit zu versäumen, seinen Freund zu betrügen, wäre ein Akt der Schwäche; die Wahrheit zu sagen, wo die Lüge bessere Dienste leisten kann, wäre die Schlichtheit eines Kindes. Der Begriff Ehre wird nicht verstanden.
    Je grobmaschiger das soziale Netz ist, desto mehr Nischen entstehen im Graubereich der Menschenwürde. Die Papierberge an den Sammelstellen erreichen in der Frühe epische Ausmaße. Im Gedenken an die Papierverwerter und Büchersammler von Rio suche ich das Gespräch. Selten habe ich mich so fehl am Platz gefühlt, so sehr als Eindringling in eine Welt, die nicht die meine ist. Ihr Schweigen, ihr finsteres Abwenden, ihre mitunter aggressive Abwehr steigert nur das Gefühl, mich hier in innere Angelegenheiten einzumischen, die mich nichts angehen.
    Erst im Verlauf der Tage entdecke ich die angenehmeren Seiten von Buenos Aires - wobei sich nicht die Stadt verändert hat, sondern mein Blick. Ich bin in Belgrano untergekommen, einem ebenso aufregenden wie unaufgeregten Wohn- und Einkaufsviertel unweit des Río de la Plata. Mittags berstende Lunch-Lokale mit großen Tellern zu kleinen Preisen. Das Rindfleisch kann Vegetarier zum Umfallen bringen. Die gut gelagerten, ölig schweren Weine aus der Gegend um Mendoza erzählen Geschichten von knorrigen Wurzeln in derber Erde, aus der die Dauersonne das Wasser saugt wie dickes Blut. Eine Señora bestellt ein Salatblatt extra für ihre Babyschildkröte. Olga, eine Weißrussin mit den schönsten gletscherblauen Augen und schlechtesten Zähnen, die ich je in einem Gesicht zusammen gesehen habe, schneidet mir das Haar und erzählt von dem hart erkämpften Glück, das sie hier gefunden habe.
    In der U-Bahn tritt mir eine Frau versehentlich auf den Fuß und entschuldigt sich. »No importa«, sage ich, »das macht doch nichts.« - »Sí importa«, gibt sie trotzig zurück. Eine andere sieht mich lesen, Borges, nimmt einen Zettel aus ihrer Handtasche, notiert ein paar
Namen und sagt: »Damit Sie unsere anderen Dichter nicht vergessen.« Auf dem Papier stehen Julio Cortázar, Ernesto Sábato, Victoria Ocampo. Abends im alten Zentrum eine Menschenschlange um einen ganzen Block - Anstehen für Theaterkarten. In der Confitería Ideal zählt die Qualität des Tangos mehr als die des durchgesessenen Mobiliars. Ich komme ins Gespräch mit einem älteren Ehepaar. Sie wollen über das »Stück Leben« reden, das uns das Paar auf der Bühne mit gekonnter Kälte soeben vorgeführt hat. Das alles ist mir in Rio nicht passiert.
    Mit gehörigem Respekt vor argentinischen Uniformen betrete ich endlich eine Polizeistation. Ich muss den Verlust meines Passes anzeigen, um einen neuen bekommen zu können. Die Polizistin will jedes Detail wissen. Da ich nicht lügen möchte, versuche ich zu sagen, das Ausweispapier sei mir abhanden gekommen, »extraviado«. »Perdido?«, fragt sie zurück, »verloren?« Was soll ich sagen? »Sí.« Ich will ja niemanden beschuldigen. »Das kostet Gebühren. Hätten Sie ›gestohlen‹ gesagt, wäre es umsonst gewesen.«
    In der deutschen Botschaft geht dann alles sehr schnell. Ich erhielt, was ich wollte, einen Pass. Ein Beamter mit dem schönen deutschen Namen Henry Boy stellt ihn mir aus. Im Notfall geht so was in wenigen Minuten. Darwin erhält sein Dokument von Juan Manuel de Rosas.

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    Patagonien

    Endlose Kiesfelder · Fossilien bei St. Julián · Darwins Heimkehr · Leben in Cambridge und London · Geheime Notizbücher · Der Sinn des Todes · Riesenhafte Patagonier ·