Darwin im Faktencheck - moderne Evolutionskritik auf dem Prüfstand
glaubte, Organismen würden sich durch gezielten Einsatz von Organen aktiv an die gegebenen Umweltbedingungen anpassen. Viel – allen voran zur Optimierung der Nahrungsversorgung – „trainierte“ Organe würden dadurch besonders stark entwickelt, wenig benutzte zurückgebildet. Als Paradebeispiel führt Lamarck unter anderem den Giraffenhals an, dessen Länge aus der gezielten Streckung zur besseren Erreichbarkeit von Nahrung resultiere.
2. Vererbung der durch Organgebrauch erworbenen Eigenschaften: Lamarck ging davon aus, dass die individuell im Laufe des Lebens durch aktive Umweltanpassung erzielten Veränderungen an die Nachkommen weitergegeben würden. Den Kindern eines Giraffenpaares, das es durch jahrelange Streckung zur „Langhälsigkeit“ gebracht hätte, würde diese von den Eltern antrainierte Eigenschaft gleich in die Wiege gelegt.
Lamarcks erstes Postulat erscheint aus heutiger Sicht noch bedingt plausibel. Die adaptive Wirkung des Gebrauchs unserer Muskeln etwa kann jeder Fitnesssportler bis hin zum Extrem des Bodybuilders am eigenen Körper nachvollziehen. Auch die gute Trainierbarkeit des Herzmuskels durch Ausdauerleistungen ist einwandfrei nachgewiesen. Dagegen ist Anpassungsfähigkeit anderer Körperorgane und strukturen deutlich beschränkt. Das beginnt schon bei den muskulären Hilfsstrukturen, den Bändern und Sehnen, die aufgrund ihrer nur geringen Trainierbarkeit zum verletzungsanfälligen Schwachpunkt eines übersteigerten Muskelwachstums werden. So hält auch die Lamarck’sche „Giraffenhalstheorie“ heute keiner ernsthaften Gegenargumentation mehr stand. Der aktiven Umweltanpassung individueller Organismen sind durch naturgegebene (nach heutiger Kenntnis genetisch determinierte) Beschränkungen enge Grenzen gesetzt.
Die zweite Forderung Lamarcks wurde zumindest bis vor wenigen Jahren als völlige Fehleinschätzung angesehen. Der Bodybuilder zeugt nicht automatisch ein besonders muskulöses Baby, und wenngleich die genetische Ausstattung dem Agassi/Graf’schen Nachwuchs wohlmöglich gute Voraussetzungen für koordinatives Geschick und sportliche Leistungsfähigkeit beschert, eine gute Vorhand, ökonomische Beinarbeit und taktische Finesse wird sich jeder der Sprosse im Falle einer Tenniskarriere durch eigenes Training neu aneignen müssen. Der noch junge Forschungszweig der Epigenetik, der sich die Aufdeckung der Regulationsmechanismen von Genaktivitäten zur Aufgabe gemacht hat, konnte jüngst einige vielleicht bahnbrechende Ergebnisse liefern. Demnach sind neben der reinen genetischen Ausstattung spezielle, durch chemische Modifikationen des Erbmaterials bewirkte Aktivierungsmuster der Genaktivitäten von nicht minderer Bedeutung für die individuelle Merkmalsausprägung. Besonders bemerkenswert ist dabei die Erkenntnis, dass diese Aktivierungsmuster nicht nur durch die persönliche Lebensführung (z. B. Ernährung, „Genussmittel“konsum, Bewegung, Stress) beeinflussbar sind, sondern auch entscheidenden Einfluss auf die Nachfolgegenerationen haben (z. B. hinsichtlich bestimmter Krankheitsrisiken). Offensichtlich gibt es also Eigenschaften, die durch den individuellen Lebensstil beeinflussbar sind und reproduzierbare Auswirkungen auf den Nachwuchs haben, obwohl sie nicht in unseren Genen festgeschrieben sind – sozusagen eine nicht genetische (sondern epigenetische) Merkmalsübertragung. Vor dem Hintergrund dieser brandneuen Einsichten erscheint die Lamarck’sche Theorie der Vererbung von individuell erworbenen Eigenschaften in einem ganz neuen Licht, und das überlegene Lächeln, das uns beim Lesen der Lamarck’schen Thesen überkam, ist aus unseren Gesichtern gewichen. Natürlich hatte Lamarck selbst noch keine Vorstellung von molekulargenetischen, geschweige denn epigenetischen Mechanismen. Angesichts des Wissensstandes der damaligen Zeit verdient seine Arbeit aber uneingeschränkte Anerkennung. Lamarcks Verdienst ist sicher, dass endlich mit dem bis dato absolutistisch herrschenden Dogma der Unveränderlichkeit aller Lebensformen gebrochen und erstmalig eine wissenschaftliche Erklärung für das Faktum der Artenvielfalt geliefert wurde. Nur mit einem so umfassend begründeten, sorgfältig ausgearbeiteten Modell konnte derartiges gelingen und die Evolutionsbiologie quasi aus der Taufe gehoben werden.
Festzuhalten bleibt: Lamarck hat die Tatsache der Veränderlichkeit der Arten in Abhängigkeit von den herrschenden Umweltbedingungen ganz richtig erkannt. „Nur“ bei
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