Das 2. Gesicht
Deshalb überraschte mich George zu unserer Hochzeit mit einem Teil dieser Reise. Wir fuhren von Nevada durch das Death Valley nach Kalifornien, hoch nach Seattle und über Montana bis nach Ohio. Dort unterbrachen wir die Steinbeck-Route und kürzten ab. Über Washington D.C., Tennessee und Alabama gelangten wir nach Florida. Die Ostküste sparten wir uns für später auf.
„Ich will mir meine Hochzeitsreise nicht durch meine Eltern in Vermont versauen lassen“, sagte George. Es waren wunderbare, unbeschwerte, fröhliche Tage. George fand an jeder Ecke irgendwo etwas Besonderes, etwas typisch Amerikanisches, was er mir unbedingt zeigen musste. Abends fielen wir in Bed & Breakfasts, die schrulligen alten Ladys gehörten, übereinander her, hatten schmutzigen Sex in heruntergekommenen Motels oder liebten uns in mondänen Fünf-Sterne-Hotels. Wir sangen laut die Lieder aus dem Autoradio mit. Wir waren wirklich
on the road
, so wie ich mir das immer gewünscht hatte. Diese sieben Wochen waren die glücklichsten meines Lebens. Manchmal, da saß ich neben ihm im Auto, schaute ihn von der Seite an und dachte, ich sei die glücklichste Frau auf der ganzen Welt. Ich fühlte mich geborgen und geliebt.
Von Fort Myers hatte ich überhaupt keine Vorstellung. Den Namen fand ich eigentlich unsympathisch. Die Bilder, die ich gegoogelt hatte, zeigten viele Palmen und noch mehr Wasser. George hatte mir all die berühmten Amerikaner aufgezählt, die hier ihre Winterquartiere aufgeschlagen hatten. In seiner Nachbarschaft hatten Thomas Alva Edison und John Ford gelebt. Kann ja so schlecht nicht sein, dachte ich deshalb.
Das war natürlich die Untertreibung des Jahrhunderts. Das Haus lag direkt am Caloosahatchee River und sah aus wie ein Schloss. Irgendwas in Richtung Ludwig der Vierzehnte. Es führte eine breite Auffahrt zum Haus, das sechs Garagen besaß. Wozu braucht man sechs Garagen, fragte ich mich, als mich George das erste Mal nach Hause brachte.
Nach Hause hatte ich mir anders vorgestellt. Das hier war viel zu pompös, um es Zuhause zu nennen. Es war großkotzig, angeberisch, kitschig. Das waren meine Gedanken, als ich es von außen sah. George schaute mir ins Gesicht, als er die Haustür, aufschloss. Die Aussicht war atemberaubend: Von einem Kaminraum aus schaute man über einen türkisfarben erleuchteten Pool und einen Garten direkt auf den breiten Fluss, der zu beiden Seiten von je einer geschwungenen Brücke überquert wurde. Da es schon dämmerte, funkelten am gegenüberliegenden Ufer die Lichter von Cape Coral, auf dem Fluss waren immer noch einige Motorboote unterwegs.
George zeigte mir das Haus. Ich verzog keine Miene, aber es fiel mir schwer, mit einem halbwegs neutralen Gesicht die Führung durch diese Filmkulisse zu überstehen.
„So also wohnst du“, war alles, was ich herausbrachte.
„Gefällt es dir?“, fragte George.
Was sollte ich darauf sagen? Dass ich diese Ansammlung von amerikanischem Kitsch entsetzlich fand? Das wäre nicht die Wahrheit gewesen. Nicht einmal die halbe. Die Wahrheit war, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass überhaupt jemand in diesem Haus lebte oder leben konnte.
„Hast du das eingerichtet?“, fragte ich ihn. George lachte. Heute weiß ich, dass man solche Häuser mit Einrichtung kauft und sehr teure Innenarchitekten damit beschäftigt werden, die Häuser so zu stylen, dass sie auf Fotos einladend aussahen. Mein Gefühl, mich in einer Filmkulisse zu befinden, war also gar nicht so falsch gewesen.
„Wo schreibst du?“, fragte ich ihn. Ich hoffte, irgendwo ein Zimmer zu finden, das irgendeine individuelle Spur zeigte.
„Hier nicht“, sagte George, „ich habe dafür meine Strandhütte.“
„Och, zeigst du sie mir?“, bettelte ich.
„Später mal, vielleicht. Die Hütte ist mein ganz persönliches Reich, ich will nicht, dass jemand anderer sie betritt.“
„Nicht einmal deine Ehefrau?“, fragte ich.
„Nicht einmal meine Ehefrau. Die vor allem nicht.“
Der Seitenhieb saß. Ich fühlte, dass George gerade gewaltig verstimmt war. War es mein ausbleibender Jubel über das Schloss von Ludwig dem Vierzehnten? Oder war ich zu neugierig gewesen? Ich hatte schon ein paar Mal gemerkt, dass es Momente gab, in denen er sich total in sich zurückzog. Allerdings hatte ich noch nicht herausgefunden, wieso er mitunter verstimmt war und wie ich ihn aus dieser Verstimmung wieder herausholen konnte.
„Wo ist unser Schlafzimmer?“, fragte ich deshalb.
Er schaute mich
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