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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nika Lubitsch
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den Grauschleier von meinem Leben. Dann sah ich George Ostermans Gesicht in einer rosaroten Wolke leuchten. Um mich im nächsten Moment wieder in die tiefste Leere zu stürzen, die ich je erlebt hatte.
    Ich war noch ein Kind gewesen, als mein Vater starb. Es war schlimm, vor allem für meine Mutter. Aber meine Wunde heilte erstaunlich schnell. Meine Mutter hatte es geschafft, die Erinnerung an meinen Vater so lebendig zu halten, als ob er immer noch bei uns wäre. Ich hatte ein Bild von ihm immer im Herzen, so wie er mit mir herumtollte, lachend, mich beschützend, allwissend.
    Als meine Mutter vor einem halben Jahr bei einem Autounfall völlig unerwartet starb, da hatte ich mich bereits von zu Hause abgenabelt. Aber ich hatte von meiner Mutter gelernt, wie man einen Menschen tief in sich lebendig erhält. Mama war nicht tot, meine Mama war im Moment nicht erreichbar. Sie war woanders, aber sie würde mich immer, immer lieben. Und ich konnte mit ihr reden, ihr alles erzählen, sie würde mir immer zuhören und mir gute Ratschläge geben. Ja, ich trauerte um meine Mutter, aber ich wusste, dass sie mich sah, mich begleitete, mich beschützte.
    Von Osterman wusste ich nichts. Außer, dass er die große, unerfüllte Liebe meines Lebens war. Ja, genauso war es. Ich liebte ihn, mit jeder Faser meines Herzens. Aber es war eine verzweifelte Liebe, eine ohne Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, ohne Hoffnung darauf, jemals von ihm wiedergeliebt zu werden.
    Ich sah aus, als ob ich eine schwere Krankheit hätte. Die Schatten unter meinen Augen wurden immer tiefer. Was vor allem daran lag, dass ich Nacht für Nacht wach lag, in die Dunkelheit starrte, mich von rechts nach links wälzte, meine Bettdecke zerknüllt an mich presste und immer wieder seinen Namen flüsterte. George! Ich sah ihn auf mich zukommen, ich sah, wie er mit ausgestreckten Armen auf mich zulief, und dann wachte ich auf und es war morgens um vier. Meine Geisterstunde. Jede Nacht war ich schweißgebadet, mein Körper sehnte sich nach ihm wie eine Süchtige nach dem nächsten Schuss. Ich sah ihn auf mich zufahren, ich sah ihn in einem Flugzeug auf mich zurasen, eine Lawine namens George, die auf mich zurollte, mich überrollte, es war alles flammend rot und dann wachte ich das nächste Mal schweißgebadet auf und es war erst halb fünf. Oh, wie ich diese Nächte gehasst und mich trotzdem nach ihnen gesehnt habe, endlich allein zu sein, mit ihm, meine Gedanken laufen zu lassen, nicht an so etwas wie Buchhaltung oder Absatzzahlen denken zu müssen, sondern nur an ihn.
    So war das also mit dem Verlust. Ich hatte gelernt, Menschen zu verlieren, die ich liebte, von denen ich wusste, dass ich wiedergeliebt wurde. Liebe ist ewig, sie bildet eine schützende Hülle um dich, sie umgibt dich wie ein wärmender Mantel, meine Mutter, mein Vater, ihre Liebe war noch da, ich konnte sie jede Sekunde spüren.
    Wenn du allerdings jemanden liebst, der dich nicht wiederliebt, dann ist das Einsamkeit pur, oder um mit Georges neuem Thriller zu sprechen: Dead End. Auf gut deutsch: Ohne Ausweg.
    Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich aus dieser Sackgasse befreien sollte. Sandra lachte mich aus.
    „Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass das die große Liebe deines Lebens war“, sagte sie. „Wenn er dich wiederlieben würde, oder nur den Hauch eines Interesses an dir hätte, dann hätte er dich einfach über irgendein Hotelbett geworfen.“
    Typisch Sandra. Sie neigt dazu, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Deshalb ist sie ja auch in der Werbung. Manchmal ist sie ein bisschen brutal, aber immer hundert Prozent treffend. Ich wusste ja, dass sie Recht hatte. Aber wie sollte ich den Kerl aus dem Kopf kriegen? Ich erzählte Sandra natürlich nicht von meinen nächtlichen Ausflügen, ich schämte mich viel zu sehr.
    Zwölf Tage und dreieinhalb Stunden nachdem ich George ins Flugzeug gesetzt hatte, klingelte mein Telefon im Verlag.
    „Gottvater für dich“, säuselte unsere Telefonistin. Wen meinte sie?
    „Was machst du heute Abend?“ Es war George.
    Ich war sprachlos.
    „Bleib, wo du bist!“ Es war ein Befehl. Er hatte aufgelegt.
    Was war das? Eine Fata Morgana? Spielten mir jetzt meine Nerven einen Streich? War ich nun schon komplett durchgeknallt? Ich spürte, dass meine Hände feucht waren, in meinem Hals saß ein dicker Kloß. Ich war also auf direktem Weg ins Irrenhaus.
    Und dann stand er in der Tür zu meinem Büro. George Osterman, wirklich und wahrhaftig. Oder waren

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